Ein allzu schönes Mädchen
Ermittlungen zu
sprechen. Sie wussten, dass sie sich diesen Abend verdient hatten, dass sie ihn brauchten, um neue Kraft zu schöpfen.
«Ach, Herr Doktor», sagte Marthaler und machte mit der Rechten eine unbestimmte Handbewegung, «du glaubst ja gar nicht, wie
gut das tut.»
Am Ende des Abends hatten sie fünf Flaschen Wein geleert. Marthaler merkte, dass er müde und auf angenehme Weise betrunken
war. Als er Sabato bat, ihm die Nummer eines Taxiunternehmens herauszusuchen, schüttelte der Kriminaltechniker den Kopf.
«Nein», sagte er. «Du bleibst hier heute Nacht. Elena hat dir unten das Bett frisch bezogen. Im Bad liegen Handtücher und
eine neue Zahnbürste. Du hast das ganze Souterrain für dich. Morgen mache ich uns ein Frühstück, und dann können wir gemeinsam
ins Präsidium fahren.»
Marthaler protestierte. Er fand, dass er die Gastfreundschaft der beiden schon genug strapaziert hatte. Doch Carlos Sabato
blieb stur.
«Keine Widerrede», sagte er. «Du bleibst. Es gibt keinen Grund, dass du jetzt fährst.»
Marthaler nickte. Sabato hatte Recht; es gab keinen Grund.
|216| Vierundzwanzig
Als er aufwachte, hörte er einen Vogel im Garten singen. Im Haus war noch alles ruhig. Es begann gerade erst zu dämmern.
Marthaler hatte Durst. Er sah, dass Elena ihm eine Flasche Mineralwasser auf den Nachttisch gestellt hatte. Er trank ein Glas
und gleich noch ein zweites hinterher. Er schaute auf die Uhr. Es war noch nicht einmal halb sechs. Trotzdem fühlte er sich
ausgeruht. Seine Blase hatte ihn geweckt, und er wusste, dass er nicht mehr würde einschlafen können. Er ging zur Toilette,
dann legte er sich wieder hin. Er knipste die Nachttischlampe an. Auf einem kleinen Regal neben dem Bett stand eine Reihe
mit alten, zerlesenen Taschenbüchern. Es waren ausnahmslos Kriminalromane. Er zog einen hervor, blätterte darin und begann
zu lesen:
Hank war ein hartgesottener Bursche. Er hatte keine Haare mehr. Sein Kopf glich einem hautfarbenen Fußball. Er öffnete den
Mund. Sein Kopf glich jetzt einem hautfarbenen Fußball mit einem Loch in der Mitte. Er schnipste eine Zigarette aus der Packung
und steckte sie in das Loch. Er schaute zum Tresen und fragte nach Feuer, aber niemand reagierte. Hank fragte noch einmal.
Dann zog er seine Luger und schoss.
Marthaler lächelte. Er klappte das Buch wieder zu. Er fragte sich, wer in diesem Haus so etwas las. Als Jugendlicher hatte
er selbst zahllose Kriminalromane gelesen. Irgendwann hatte er die Nase voll gehabt von dem Ton, der in diesen Büchern herrschte,
von all den Hanks und den anderen hartgesottenen |217| Burschen. Seit er selbst Polizist geworden war, hatte er einen regelrechten Widerwillen gegen diese Art Literatur entwickelt.
Und wenn im Fernsehen ein Kriminalfilm angekündigt wurde, schaltete er sofort um.
Er stellte das Buch zurück ins Regal. Dann ging noch einmal ins Bad, putzte sich die Zähne und wusch sein Gesicht. Er überlegte,
ob er sich anziehen und ein Taxi rufen solle. Sabato und Elena würden sicher frühestens in einer halben Stunde aufstehen.
Als er zurück in das Gästezimmer kam, klingelte sein Mobiltelefon. Er brauchte einen Moment, bis er es aus der Jackentasche
gekramt hatte. Es war Manfred Petersen.
«Ich glaube, es wäre gut, du würdest herkommen.»
Marthaler saß auf der Bettkante und presste den Hörer an sein Ohr. Von einer Sekunde zur anderen war er hellwach. «Was ist
passiert?»
Er merkte, dass seine Stimme heiser klang.
«Warum flüsterst du?», fragte Petersen.
«Ich habe bei Sabato in Berkersheim übernachtet. Carlos und Elena schlafen noch. Ich will sie nicht wecken. Was ist passiert?»
«Erklär mir den Weg. Ich werde dich mit dem Motorrad abholen. Es sieht so aus, als hätten wir den grünen Fiat gefunden.»
Marthaler merkte, wie seine Nerven vor Anspannung vibrierten. «Ich laufe hoch zur Bundesstraße, dort werde ich auf dich warten.»
Marthaler zog sich an und ging leise nach oben. In der Küche suchte er Stift und Zettel, um eine Nachricht zu schreiben. Vorsichtig
zog er die Haustür hinter sich ins Schloss.
Noch in Socken lief er über den Kiesweg bis zu dem alten Gartentörchen. Erst auf der Straße zog er seine Schuhe an. Dann machte
er sich auf den Weg.
|218| Um zwanzig nach sechs hatte er die Bundesstraße erreicht. Schon jetzt waren viele Pendler mit ihren Autos nach Frankfurt unterwegs.
Die gegenüberliegende Fahrbahn war fast leer.
Marthaler
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