Ein allzu schönes Mädchen
Funke kurz vor seinem Tod mit einer Frau geschlafen hat.
Wer diese Frau war, das konnten wir noch nicht klären. Ich bitte euch nur, die Frage nach der Fremden nicht ganz zu vergessen.»
Döring war noch nicht zufrieden. Er schaute Marthaler an. «Ich verstehe nicht, warum du so zögerlich bist, Robert. Alles,
was wir über diesen Jörg Gessner wissen, zeigt uns doch, dass er ein brutaler Krimineller ist. Warum wohl ist er wie vom Erdboden
verschluckt? In meinen Augen ist er unser Hauptverdächtiger. Ich sehe keinen vernünftigen Grund, daran zu zweifeln. Und ich
halte es für gefährlich, uns nicht auf ihn zu konzentrieren. Wir sollten uns einen Haftbefehl ausstellen lassen und ihn zur
Fahndung ausschreiben.»
Marthaler merkte, wie er in die Defensive geriet. Ihm fehlte die Kraft, sich gegen eine so deutliche Position zu wehren. Und
er hatte keine guten Argumente. Er wusste nur, dass er nicht noch einmal einen Fehler machen wollte, wie vor zwei Tagen, als
er vorschnell Werner Hegemann verdächtigt und damit einen womöglich wichtigen Zeugen verschreckt hatte. Umso erfreuter war
er, dass er jetzt Hilfe von einer Seite bekam, von der er sie am wenigsten erwartete. Es war Sven Liebmann, der den Kopf schüttelte
und seinem Freund widersprach.
«Nein», sagte er, «das geht mir zu schnell. Lass uns noch einen Tag damit warten.»
Mehr Worte waren nicht nötig. Liebmann streckte sich und gähnte. Auch die anderen sahen müde aus. Niemand von ihnen mochte
diese Sitzungen. Und dennoch mussten sie sein. |208| Es war nicht nur wichtig, dass alle den Stand der Ermittlungen kannten, sondern auch dass jeder wusste, wie die anderen dachten,
ob sie sich bereits auf einen Verdächtigen festgelegt hatten oder ob sie noch ratlos waren. Marthaler hatte oft genug erfahren,
wie nützlich ihm die Zweifel seiner Kollegen sein konnten. Besonders dann, wenn er selbst sich verrannt hatte. Manchmal genügte
dann schon der ungläubige Blick oder das Lächeln eines Kollegen, und er war bereit, seinen Gedanken eine neue Richtung zu
geben.
«Wenn alle einverstanden sind, machen wir es so, wie Sven vorgeschlagen hat», sagte Marthaler. «Ich finde, wir sollten jetzt
nach Hause gehen und uns ausruhen.»
Sie verabredeten, sich am nächsten Morgen um acht Uhr wieder zu treffen, um das weitere Vorgehen abzusprechen.
|209| Dreiundzwanzig
Marthaler nahm dankend an, als Petersen anbot, ihn nach Hause zu fahren. So hatte er noch etwas Zeit bis zu seiner Verabredung
bei den Sabatos. Während der Sitzung hatte er immer wieder an den bevorstehenden Abend gedacht wie an etwas besonders Kostbares.
Er legte Beethovens Pastorale in den C D-Spieler und drehte die Anlage auf. Dann ging er ins Badezimmer und ließ Wasser einlaufen. Er zog sich aus und lief nackt durch die
Wohnung. Als sein Blick zufällig auf das gegenüberliegende Haus fiel, sah er, dass die junge Frau, die er dort gelegentlich
sah, am offenen Fenster stand. Sie hatte ihn entdeckt. Sie schien zu lächeln. Er lächelte ebenfalls, zog dann aber doch die
Vorhänge zu. Laut summte er das Thema des ersten Satzes mit. Ihm gefiel, mit welcher Leichtigkeit Roger Norrington diese Sinfonie
dirigierte.
Marthaler hatte sich immer gewünscht, ein wenig musikalischer zu sein, aber ihm war bewusst, wie kläglich sich seine Versuche
anhörten, auch nur die einfachste Melodie zu halten. Er hatte es längst aufgegeben. Selbst wenn er, was selten genug vorkam,
einen Gottesdienst besuchte, weigerte er sich, die Lieder mitzusingen. Nur in seiner Wohnung, wenn er allein und guter Stimmung
war, sang er glücklich laut und falsch mit.
Er dachte an seinen alten Schulfreund Holger, der immer behauptet hatte, kein Mensch sei unmusikalisch, den meisten fehle
es nur an musikalischer Ausbildung. Allerdings strafte Holger seinen eigenen Optimismus Lügen. Denn obwohl er anderthalb Jahre
Gesangsunterricht genommen hatte, verzogen |210| alle die Gesichter, wenn er auf den Klassenfeiern lauthals die Lieder von John Lennon oder Georges Moustaki mitsang.
Es war lange her, dass Marthaler und Holger sich das letzte Mal gesehen hatten. Holger hatte nach dem Abitur seinen Wehrdienst
abgeleistet, war dann zum Studium nach Berlin gegangen und hatte dort später die Gärtnerei eines kinderlosen Großonkels übernommen.
Inzwischen war er verheiratet und hatte drei oder vier Kinder; so genau wusste Marthaler das nicht. Vor einigen Jahren hatten
sie sich einmal für zwei
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