Ein allzu schönes Mädchen
Stunden in einem Restaurant auf dem Frankfurter Flughafen getroffen. Sie hatten rasch ein paar Gläser
überteuerten Wein getrunken und versucht, nicht allzu viele Verlegenheitspausen entstehen zu lassen. Sie hatten von den alten
Zeiten gesprochen und doch gemerkt, dass inzwischen zu viel geschehen war. Immer wieder war ihr Gespräch ins Stocken geraten,
und sie hatten sich für Sekunden stumm angelächelt. Dann hatten sie sich verabschiedet mit dem Versprechen, diesmal nicht
wieder so viel Zeit bis zum nächsten Treffen vergehen zu lassen. Aber beide hatten gewusst, dass dieses Versprechen nicht
ernst gemeint war.
Nun, da Marthaler seit langem einmal wieder an Holger dachte, verspürte er das vage Bedürfnis, ihn wieder zu sehen. Er hatte
sich bereits mehrmals vorgenommen, einmal nach Berlin zu fahren, um sich die neue Hauptstadt anzuschauen. Aber immer, wenn
er ein paar freie Tage hatte, zog er es doch vor, an jene Orte zu reisen, die er mit Katharina vor vielen Jahren besucht hatte
und wo er glücklicher gewesen war als je zuvor und je danach. In Berlin war er als Heranwachsender ein paarmal gewesen, war
dann in den Osten gefahren, um sich ein Theaterstück anzuschauen, war über den Dorotheenstädtischen Friedhof gelaufen und
hatte in der großen Buchhandlung am Alexanderplatz Bücher gekauft, die es im Westen |211| nicht gab, und meist auch noch ein paar Schallplatten mit klassischer Musik. Später war er nie mehr da gewesen.
Marthaler stieg aus der Wanne und sah auf die Uhr. Er rief Sabato an und sagte, dass es ein paar Minuten später werde. Dann
zog er sich an und bestellte ein Taxi. Er zog die Tür hinter sich ins Schloss und stieg hinab in den Keller, um eine Flasche
Wein zu holen.
Diesmal dachte er daran, die Haustür hinter sich abzuschließen. Als er auf dem Bürgersteig stand, schaute er nach oben und
sah die Hausmeisterin im Fenster lehnen. Er winkte ihr zu.
Unterwegs fragte er den Taxifahrer, ob er ein offenes Blumengeschäft wisse. Sie hielten am Bahnhof, Marthaler ließ sich für
dreißig Mark einen Strauß zusammenstellen, dann fuhren sie weiter nach Berkersheim.
Eine Klingel gab es nicht an dem alten Törchen. Aber er hatte kaum den Kiesweg im Vorgarten betreten, als schon die Haustür
geöffnet wurde.
Sabato lachte. Sein Kopf berührte fast den Türbalken. Er hatte beide Arme ausgestreckt, um Marthaler zu begrüßen. Er zog den
Gast ins Haus.
«Komm», sagte er, «du musst Elena guten Tag sagen. Sie hat sich so auf dich gefreut.»
Elena war eine fröhliche, schwarzhaarige Frau. Sie hatte eine halbe Stelle als Ärztin in einer Klinik für Psychiatrie. Elena
war ein paar Jahre jünger als Sabato. Obwohl sie fast ein Meter siebzig groß war, wirkte sie neben ihrem Mann geradezu klein
und zierlich. Dennoch machte sie einen sehr energischen Eindruck. Marthaler kannte sie fast so lange wie Sabato selbst. Er
schaute ihr zu, wie sie zielsicher die richtige Vase auswählte, Wasser einfüllte und dann die Blumen, die er mitgebracht hatte,
mit ein paar gekonnten Handbewegungen anordnete.
|212| «Na», sagte sie, «das ist aber mal ein schöner Strauß.»
Dann ging sie zu Marthaler, der sich auf einen Küchenstuhl gesetzt hatte, und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
«Schön, dass du da bist, Robert. Ist lange her, oder?»
Marthaler nickte. Ja, es war lange her. Aber sofort fühlte er sich wieder wohl bei den beiden und bereute, dass sie sich nicht
wesentlich öfter trafen. Er merkte, dass er Gefahr lief, sentimental zu werden, und war froh, als Elena zu verstehen gab,
dass sie jetzt ungestört die letzten Vorbereitungen treffen wolle.
«So», sagte sie und wedelte die beiden Männer mit der Hand aus dem Raum, «raus mit euch aus der Küche. Kümmert euch gefälligst
um den Grill.»
Wie jedes Mal, wenn er in den vergangenen Jahren die beiden besuchte hatte, merkte Marthaler auch jetzt, wie sehr ihm dieses
Haus gefiel. Alles war einfach, aber zweckmäßig und mit viel Geschmack eingerichtet. Die Wände waren weiß, hier und dort hing
ein Bild, von dem man den Eindruck hatte, es habe schon immer dort gehangen. Im großen Zimmer, das mit der Küche verbunden
war, standen auf einer Mauer ein paar bemalte Tonkrüge, von denen Marthaler annahm, dass sie aus Spanien stammten. Es gab
Bücher, ein großes Regal voller Kunstbände, einen alten, aber schlichten Sekretär. Nichts von dem wirkte wie ausgestellt,
alles ganz selbstverständlich. Man
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