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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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Nervosität hinreißen ließe. Man vermutete auch, dass die Nervosität ansteckend sein konnte. Die Kleinste war ja die einzige in der Familie, die das Erbe weitertragen sollte. Eine Erzählung in der Familie deutete an, dass das, was die Nervöse auf Zettel, Bretter und Wände gekritzelt hatte, etwas wie Gedichte waren. Man hatte ja gelesen, dass Gedichte und Wahnsinn häufig Hand in Hand gingen. Dieser Fröding zum Beispiel, von dem so viel geredet wurde, war wahnsinnig.
    So war es mit Großmutter Lovisa. Gerettet wie Abrahams Sohn Isaak. Die Mutter mit dem Messer eingeschlossen in ihr ewiges Dichten . Die nie beantwortete Frage war, ob das Dichten der Kritzlerin nicht dennoch auf irgendeine Art und Weise Klein Lova, die einzig Überlebende, angesteckt hatte.
    Sie schrieb an die Wände. Es war schwer zu deuten, danach übermalt. Sie bemühte sich wirklich, das muss man sagen, was immer es auch sein mochte, das sie schreiben wollte.

Die Verrückte hatte gekritzelt. Das war ja eine klare Antwort auf die Frage, ob es sonst noch jemanden in der Familie gab, der eine Suchtnatur hatte und schrieb.
    Dass der Vater vor seinem frühen Tod Verse auf einen Notizblock geschrieben hatte, war der Mutter herausgerutscht. Es waren »Gedichte« verschiedener Art gewesen. Verse, kann man sagen. Er hatte sich viel damit beschäftigt. Einen Monat vor seinem Tod hatte er im übrigen eine Geige gekauft. Sie war noch da, als die Mutter starb, und das Kind erbte sie. Sie war beinahe ungespielt, aber man konnte sich vorstellen, dass sie sich, wenn sie eine Zeitlang benutzt wurde, ziemlich gespielt anhören würde. Das hatte der Vater auf jeden Fall geglaubt. Geige galt ja sonst allgemein als Zigeunerinstrument. Das konnte man in den Büchern von Sigge Stark bestätigt finden, also durch diejenigen, die Sigge Stark lasen. Das taten ja nicht alle, es war keine richtige Erbauungslektüre, wenn auch glaubwürdig; viele waren der Ansicht, dass man von Sigge Stark manches lernen konnte, zum Beispiel über Zigeuner und Geigenspieler. Wenn ein Zigeuner ins Dorf kam und Geige spielte, begannen die Streitereien um die schöne Bauerntochter; damit war nicht gesagt, dass Geige an sich ein Instrument der Sünde war. Wie auch immer: Der Vater hatte eine Geige gekauft, das war alles, was es dazu festzustellen gab, und er starb im übrigen, ohne auf der Geige gespielt zu haben, doch das brauchte nicht zusammenzuhängen.
    Und die Gedichte, die ins Feuer geworfen wurden? Das war nur Verleumdung, stellte die Mutter fest. Mit diesen Gedichten verhielt es sich so, erklärte sie, dass sie nach seinem Tod den Notizblock mit den Versen gefunden und sie gelesen und in sich aufgenommen hatte, und zwar mit solcher Intensität, dass das Papier verbrannte, wie in einem Feuer der Liebe . Das war, was das Kind verstanden zu haben glaubte. Sie hatte in dem Notizblock gelesen, und die Verse waren so gut und kraftvoll, dass sie verbrannten, während sie las, und dies wurde noch verstärkt durch ihre Trauer und Liebe. Wie wenn man ein Brennglas ans Norran hielt. Eine andere Erklärung, die er früher von ihr bekommen hatte und die damit ad acta gelegt werden konnte, besagte, dass Gedichte Sünde waren und sie deshalb den Notizblock verbrannt habe.
    Wie es sich verhielt, blieb unklar.
    Das war der Vater. Verbrannter Notizblock und ungespielte Geige. Daraus war nicht viel Erkenntnis zu gewinnen über die Wurzeln der Dichtsucht. Aber gab es etwas anderes Poetisches oder ähnliches in seinem Familienerbe? Er konnte doch nicht allein süchtig sein? Was war mit der überlebenden kleinen Lovisa, seiner Großmutter?
    An seinen Großvater, PW, hatte er zahlreiche Erinnerungen.
    Dieser konnte unzählige Geschichten über Füchse erzählen, weil er auch eine Fuchsfarm hatte und nach Fuchs roch, aber man gewöhnte sich an den Gestank, und Schmied war er ja auch. Plus Teermeiler.
    Aber Großmutter Lova war eigentümlich still und gesichtslos.
    Wenn er zu ihr kam, gab sie ihm ein Stück vom Hefekranz und eine Leckerei, also ein Stück Kandiszucker, aber das ergibt ja noch kein bestimmtes Bild von ihrem Charakter. Zehn Kinder hatte sie zur Welt gebracht, vier starben, das schien der natürliche Schwund zu sein, nichts, weswegen man sich anzustellen brauchte, obwohl sie gern in Tränen ausbrach, wenn der eine oder andere Name genannt wurde.
    Knut, erinnert er sich, der ein Jahr alt wurde und an irgendetwas starb.
    Diesmal nicht die Würgekrankheit, aber eine Krankheit war es, die

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