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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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Mädchen Maria Lovisa Hällgren, genannt Lova, und wurde am 20. September 1873 geboren. Mitte Oktober desselben Jahres hatte ihr Nachbar Anselm Andersson beobachtet, wie Lovas Mutter, Brita Margareta Hällgren, ziemlich dünn bekleidet über den Acker westlich vom Haus kam, anscheinend auf dem Weg zum Wald oder zum Bensberg dahinter.
    Er war stehengeblieben und hatte ihre Wanderung beobachtet, weil irgend etwas ihm besorgniserregend schien. Sie hatte ein Bündel unter dem Arm, und Anselm Andersson war nähergetreten und hatte gesehen, dass es das Kind war, Lovisa, das damals also erst einen knappen Monat alt war.
    Er war auf sie zugegangen, aber Brita Margareta war nicht ansprechbar gewesen, hatte nur starr auf den Wald geblickt und nicht stehenbleiben wollen, trotz Anselm Anderssons immer dringlicheren, aber freundlichen Fragen. In dem Augenblick hatte er entdeckt, dass sie nicht nur das Neugeborene unter dem Arm trug, sondern auch ein Messer in der Hand hielt. Sie hatte nicht reagiert, als er sie angesprochen hatte, sondern war unbeirrt weiter auf den Wald zugegangen, obwohl Anselm Andersson, der jetzt Angst bekommen hatte, sie am Arm zog. Da war das Kind ihr auf den Boden gefallen, sie hatte versucht, es aufzuheben, Anselm Andersson hatte ihr das Messer aus der Hand gewunden, worauf sie ein »Jammern« oder »Heulen« von sich gegeben, aber sonst nichts erwidert oder erklärt hatte.
    Der Bauer Anselm Andersson hatte da verstanden und sie ins Haus gezogen. Das Kind, Lovisa, das nachher immer Lova genannt wurde, wurde also zum Leben errettet. Was Anselm Andersson verstanden hatte, war, dass Brita Margareta Hällgren verrückt geworden und im Begriff gewesen war, das Mädchen zu schlachten, doch er hatte auch geahnt, warum.
    Lovas Mutter, also seine Urgroßmutter, hatte sieben Kinder bekommen, von denen Lova das jüngste war. 1873 war dann etwas geschehen. Eine Epidemie der Würgekrankheit war ausgebrochen. Sie wurde als Würgekrankheit bezeichnet, weil man blau wurde und erstickte. Es traf vor allem kleine Kinder. Es war sicher Diphtherie. Innerhalb eines Monats waren sechs der Kinder erkrankt und gestorben. Alle sechs. Eins nach dem anderen war blau geworden und gestorben. Brita Margareta Hällgren hatte wahrscheinlich zunächst getrauert, war dann in Schweigen verfallen, danach verrückt geworden und hatte beschlossen, das Jüngste und sich selbst zu schlachten, so dass auf jeden Fall niemand übrig bliebe.
    Sie hatte eventuell gedacht, dass es jetzt auch alles egal ist .
    Man konnte es ja auch positiver deuten, im biblischen Sinn. Wie es später allgemein der Fall war. Wahrscheinlich war ihr, meinte man, Gottes Stimme ertönt, wie Abraham, als Gott zu ihm sprach Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde . Es war wohl der Bensberg, den Gott im Sinn gehabt hatte. Und sie war mit Lovisa auf dem Weg dorthin, hoffte aber vielleicht, dass Gott die Hand mit dem Messer im letzten Augenblick zurückhalten würde, wie es auch mit Abraham geschehen war, als Gott sagte Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts .
    So musste man es wohl deuten. Sie erzählte ja nie.
    Dass Lova, nur einen Monat alt, die Würgekrankheit überlebt hatte, hatte etwas mit der Muttermilch zu tun, meinte man. Die hatte sie gerettet. Aber seine Urgroßmutter Brita Margareta war durch den Tod der sechs Kinder plötzlich nervös geworden, oder verrückt, wie man es allgemein nannte, und der Vorfall, als Anselm Andersson sie daran gehindert hatte, mit dem Kleinsten in den Wald hinaufzugehen und es zu schlachten, bekräftigte dies. Doch die Familie wollte sie nicht nach Umedalen ins Irrenhaus schicken, weil es eine Schande für die Verwandten gewesen wäre, sondern man schloss sie statt dessen in der kleinen Kammer ein.
    Da saß sie siebenundzwanzig Jahre lang, bis sie starb.
    Das einzige, was sie in diesen siebenundzwanzig Jahren tat, war kritzeln. Manchmal schrieb sie auf Zettel oder auf Bretterstücke, im schlimmsten Fall an die Wände. Am Ende, als sie ihr den Zimmermannsbleistift abgenommen hatten, schrieb sie mit Hilfe eines Sechs-Zoll-Nagels, mit dem sie ihre Worte in die Wände ritzte. Nichts von dem, was sie schrieb, wurde bewahrt, und nach ihrem Tod wurde verbrannt und geschrubbt und frisch gestrichen.
    Ihre Tochter Lova durfte sie nie wieder sehen. Es war ja auch natürlich, man wusste nicht, wozu sie sich in ihrer

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