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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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bestimmte Richtung zu treiben, als Trotzreaktion. Da hatte er nicht landen wollen.
    Mit der Zeit bekommt er zahlreiche Kontakte. Auf einige von ihnen kann er sich sogar verlassen.
    Draußen in Hässelby Strand lebt ein ehemaliger lettischer sozialdemokratischer Parteiführer im Exil, Bruno Kalnins. Er ist jetzt alt, aber noch stellvertretender Vorsitzender der Sozialistischen Internationalen, und hat gute Beziehungen zur Spitze der schwedischen Sozialdemokratie. Kalnins sagt ruhig, er wisse sehr wohl, was mit den Ausgelieferten geschehen sei; keiner wurde hingerichtet, aber eine ziemlich große Anzahl wurde nach Sibirien in Lager geschickt. Kalnins ist jedoch neugierig zu erfahren, wie viele . Er hält es für eine gute Idee, hinüberzufahren und Näheres herauszufinden. Auf die Frage, warum dies bisher niemand gesagt habe, also die Wahrheit über ihr Schicksal, weder ihm noch der Öffentlichkeit gesagt habe, dass keiner hingerichtet wurde, erklärt Kalnins, dass es ja alle im Exil wissen, aus politischen Gründen aber Stillschweigen bewahren.
    Aus politischen Gründen. Sie sinnen beide schweigend darüber nach.
    Kalnins findet, dass er fahren soll. Doch nur unter einer Bedingung: dass er es nicht heimlich tut. Er soll auf der sowjetischen Botschaft klar den Zweck seiner Reise angeben und die Einreisegenehmigung beantragen. Er findet dies verblüffend, wenn er seine politische Naivität und so weiter bedenkt, und angesichts dessen, dass er so ganz sicher hinters Licht geführt werden wird. Kalnins betont, dass das Risiko für die, die er heimlich besucht, sehr groß ist, während er selbst als schwedischer prominenter Autor mit guten Beziehungen in der sozialdemokratischen Partei nichts riskiere. Er dürfe nicht mit ihrem Schicksal spielen.
    Er dürfe nicht mit ihrem Schicksal spielen. Genau darum geht es.
    Er bekommt die Einreiseerlaubnis der sowjetischen Botschaft.
    Und er reist – und sucht. Neunzig Prozent des Buchs sind schon fertig, der schwedische Teil; jetzt geht es um den sowjetischen Teil, den er »Die Heimkehr« nennen wird. Er sucht sowohl an den grell beleuchteten Plätzen als auch an denen, die im Dunkeln liegen. Führt Gespräche, an allen Orten, den erlaubten, aber auch den geheimen. Er hat ja Adressen. Die erste Reise macht er mit einer fast leeren Fähre, die nach Lenins Frau Nina Krupskaja benannt ist. Die Exilanten aus aller Welt, die sich dort sammeln, auf der Reise von Stockholm nach Riga, eigenartigerweise nur an die dreißig Personen, scheinen sich zu schämen.
    Sie besuchen ein besetztes Heimatland. Manche hassen sie deshalb. Kontakte, oder Boykott. Das ist die grundlegende Frage, auf die es eigentlich keine Antwort gibt.
    Einmal reist er verkleidet. Diese Verkleidung, eine Maskierung, die ihn in gewisser Weise unsichtbar macht, auf jeden Fall bildet er sich das ein, ist die Woche, die er als Delegationsmitglied des Freundschaftsverbundes Schweden–Sowjetlettland in Riga verbringt.
    Er ist als das verkleidet, was zu sein ihm vorgeworfen wird, als nützlicher Idiot.
    Er macht sich nichts mehr daraus. Er ist besessen von der Aufgabe, nicht von seinem Ansehen. Er mag die Genossen in der Delegation sehr, sie sind von einer Reinheit und einem Ernst, den er aus seinem früheren Leben zu kennen glaubt. Sie erfahren nach und nach, dass er sich auf einer Expedition befindet, was seine zuweilen rätselhafte Abwesenheit erklärt. Er führt die Interviews in den meisten Fällen ganz offen, macht einen fast vertrauensvollen Eindruck, geht aber an gewissen Abenden viel in Rigas Parks. Er glaubt zu wissen, dass eher in Form von Raumdeckung als Manndeckung beschattet wird, Fußballbegriffe, die er den Genossen in der Delegation erklärt. Manndeckung glaubt er erkennen zu können, und es gelingt ihm nie, einen Verfolger auszumachen. Mit Raumdeckung, dem Abhören, macht er unmittelbar Bekanntschaft.
    Aber man darf nicht mit dem Leben der Ausgelieferten spielen.
    Er sprach auf seinen Reisen und nach dem Erscheinen des Buchs nicht nur mit den Ausgelieferten.
    Eine Adresse bekam er von Bruno Kalnins; es war die eines alten Freunds von Kalnins, Fricis Menders, eines jetzt fünfundachtzigjährigen sozialdemokratischen Veteranen, Professor der Volkswirtschaft, Dissident und vom Regime mit Unbehagen beäugt.
    Menders wohnte am Stadtrand von Riga. Er hatte genaue Anweisungen für den Weg bekommen, sollte kein Taxi nehmen, abbrechen, wenn er meinte, beschattet zu werden, doch wenn die Möglichkeit sich ergab, einen

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