Ein anderes Leben
ein Lernprozess, für die einst Beteiligten eine Qual, die sie noch einmal aufsuchte, bevor sie starben, gerade als es ihnen fast gelungen war, dieses schwedische Dilemma, das sich zu einer Eiterbeule entwickelt hatte, zu vergessen. Und die Befragten wussten ja noch nicht, zu welchem Ergebnis dieser sonderbare Schriftsteller kommen würde; zu einer weiteren Anklageschrift – oder einem Freispruch?
Er verstand, wenn sie nein sagten. Aber sie sagten fast nie nein. Nicht einmal der stille Legionär, der sich eine Woche vor der Auslieferung einen Bleistift ins Auge gestoßen hatte. Er war von dem Transport mit der Beloostrov ausgenommen worden. Jetzt saß er in einer kleinen Wohnung ein Stück außerhalb von London, seine Tochter war FNL-Aktivistin und hörte mit kritisch gefurchter Stirn zu, als er die furchtbare Geschichte erzählte, wie die Angst vor dem Sowjetkommunismus ihn dazu gebracht hatte, sich den Bleistift ins Auge zu rammen.
Aber alle wollten sich erklären. Am Ende wurde es ein vielstimmiger Chor.
Sie starben ja, einer nach dem anderen.
Er hörte nie wieder von Undén, es gelang ihm auch nicht, nachher noch einmal Kontakt zu ihm aufzunehmen. Er wollte wohl in Ruhe und Frieden sterben, jetzt, da er sein Lebenswerk beendet und gesagt hatte, was er sagen wollte, und immer blinder wurde, so dass er nicht mehr aufs Wasser von Riddarfjärden hinausblicken und keine alten Tagebücher mehr lesen konnte, und auch keine Zeitungen, die ihn wegen der Baltenauslieferung schmähten.
In einem Brief von Wigforss findet sich jedoch ein kürzerer Passus über ihn. ›Undén geht es ja jetzt ziemlich schlecht, und er ist fast blind. Aber ich weiß, dass man ihm das Buch vorliest.‹
Er ist jetzt einunddreißig Jahre alt.
Er hat ein Haus in Graneberg bei Uppsala gekauft. Er traut sich alles zu. Alle raten ihm ab, das Projekt weiter zu verfolgen. Er zweifelt keine Sekunde. Er will die terra incognita betreten. Im Osten gibt es nur das Imperium des Bösen sowie die kleinen, kürzlich besetzten baltischen Länder, die in Schweden von völligem Schweigen umgeben sind. Er ist vollkommen allein mit seinem Enthusiasmus. Selbst einsichtige und bewusste Intellektuelle können die baltischen Staaten nur mit Mühe auf einer Karte zeigen, so ist die Stimmung. Das treibt ihn an. Er versucht, sich in einer Exilwelt voranzutasten, die er als rätselhaft empfindet, aber nach und nach auch als ergreifend und verzweifelt. Sie sind aus einem Land geflohen, das Schweden aus prinzipiellen Ursachen vergessen hat.
Die unbekannte Welt des Exils öffnet sich ihm.
Sie ist nicht homogen. Die politische Spannbreite innerhalb des baltischen Exils ist beträchtlich, erstreckt sich von der Sozialdemokratie bis zum Faschismus. Es verblüfft sie, dass jemand, ein junger Schriftsteller, Interesse zeigt, und sie sind verwundert und misstrauisch, umarmen aber verwirrt diesen einzigen Schweden, der sich für ihre Tragödien interessiert. Sie reden vor ihm schlecht über einander, darin gleichen sie den Schwestern Rothvik. Er nimmt dies gelassen zur Kenntnis und versucht herauszusieben. Er mag den Ausdruck heraussieben .
Er weiß, dass er konstanter Fehlinformation ausgesetzt ist, definiert das Wort jedoch als auf lügenhafte Weise zusammengestellte wahre Fragmente . Was ein Problem schafft, sowie eine Möglichkeit, wenn man die wahrheitsgemäßen Partikel der Lügner identifizieren und benutzen kann. Zwischen den Reisen legt er im Heizungskeller Puzzle.
Die Definition gilt auch für sowjetische Desinformation, erkennt er später.
Er hat die Angst des Glaubens vergessen, er hat die Wärme des Sports vergessen, er hat die Hitze des politischen Rätsels gefunden. Die meisten raten ihm davon ab, ins Baltikum zu fahren und nach den Ausgelieferten zu suchen. Sie deuten seufzend an, dass er naiv sei und nicht verstehe, dass die sowjetischen Behörden ihn hinters Licht führen werden; er seufzt dann einsichtig und stimmt ihnen zu. Als sich dies zum zwanzigsten Mal wiederholt, seufzt er immer noch ebenso einsichtig. Er lässt sich jedoch von seiner jetzt ganz klar feststehenden politischen Naivität nicht ermüden. Da er nun, und mit Hilfe einer Wolke von Zeugen, eingesehen hat, dass er desinformiert werden wird, beginnt er, neugierig über die Mechanismen nachzugrübeln, die unerbittlich sein klares kindliches Gemüt destruieren werden.
Plötzlich bemerkt er seinen eigenen ironischen Untertext und bekommt Angst. Er sieht ein, dass er im Begriff ist, in eine
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