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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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Brief von Kalnins überbringen. Was dann geschieht, wird in Die Ausgelieferten nur äußerst unvollständig beschrieben.
    Dort heißt es, und das ist alles: Beschattung? Bewachung? Gegen acht Uhr abends besuchte er den alten Sozialdemokraten, der am Stadtrand von Riga wohnte: »Hat man Sie beschattet?« fragte der Alte. Während des Gesprächs holte er eine Teedose aus der Speisekammer, und unter den Teeblättern lagen einige Manuskriptblätter. Ein Brief. »Man kann nie vorsichtig genug sein.« Welche Erfahrungen hatte er gemacht? »In der Stalinzeit hat man viel gelernt.« Hatte sich etwas geändert? »Man kann nie vorsichtig genug sein. Wenn Sie ein Jahr hierblieben, würden Sie wissen . Die Kontrolle, das Misstrauen, die Zensur. Sie sind zu jung, um das zu verstehen.«
    Das ist alles, im Roman. Aber da fängt die Geschichte eigentlich erst an.
    Die Wohnung, in der Menders und seine Frau Lidija lebten, hatte vielleicht fünfunddreißig Quadratmeter.
    Vor dem Zimmer, in dem sie anscheinend auf einer Bettcouch schliefen, umgeben von Bücherstapeln, gab es eine kleine Küche, in der eine uralte Frau auf einem Stuhl saß. Sicher keine Verwandte. Sie grüßte nicht, saß zusammengesunken da und blickte den Gast böse an, eine Art Hexe mit Strickzeug und, wie er rasch mit Hilfe kleiner Gesten und dem Lächeln des Paares Menders verstand, die Aufpasserin, die die Behörden bei ihnen einquartiert hatten. In der Küche stand auch ihr Eisenbett.
    Während des gesamten Besuchs sagt sie kein Wort, senkt aber ihren Blick nur selten aufs Strickzeug. Menders macht schnell eine kleine Geste, die Gefahr bedeutet, sie schließen die Küchentür, aber sie steht augenblicklich auf und öffnet sie wieder. Sie unterhalten sich jetzt auf Deutsch. Das Gespräch wird teils offen geführt, teils in einer notdürftig kodierten Sprache. Er hat jedoch bei seinen Gesprächen mit jenen Ausgelieferten, die in sibirische Lager verbannt gewesen sind, gelernt, dass diejenigen, die den Gulag erlebt haben, merkwürdig offenherzig sind und keine Angst zu haben scheinen.
    Sie scheinen nichts mehr zu verlieren zu haben, weil sie schon fast alles verloren haben. Menders ist teils offen, teils abwartend, als grüble er über einen Entschluss nach. Seine Frau serviert Tee.
    Die Situation ist bizarr.
    Nach einer Stunde schließt seine Frau erneut die Tür zur Küche, die Hexe mit dem Strickzeug gibt jetzt auf und öffnet sie nicht wieder. Sind Sie ein alter Freund von Bruno? fragt Menders sehr leise; er bejaht dies. Kann ich mich darauf verlassen? Er bejaht es.
    Menders geht daraufhin zu einem Krug, der zwischen den Bücherstapeln versteckt ist, er ist erstaunlich groß, enthält aber offenbar Tee, und zieht einige Papiere unter dem Tee hervor.
    Der Rest der Geschichte wird jedoch schmerzlicher.
    Menders sagt mit leiser Stimme, Ich habe einige Briefe, die ich Bruno Kalnins schicken möchte, können Sie sie nehmen? Er antwortet Ja, selbstverständlich .
    Menders dreht sich dann um, hält die Papiere in der Hand, schweigt einen Moment und fragt dann, beinahe feierlich, als wolle er unterstreichen, wie groß und vielleicht gefährlich der Auftrag ist – und sein distinktes Deutsch wird jetzt noch förmlicher – Sind Sie ganz sicher, dass Sie diese Briefe in aller Diskretion zu überbringen wünschen? Überlegen Sie! Sind Sie sicher?
    Er antwortet Ja, ich bin sicher .
    Die Briefe – das Bündel Papiere ist überraschend dick, und es müssen sehr viele Briefe sein – sind mit der Maschine auf Durchschlagpapier geschrieben. Wie viele Seiten? Erstaunlich viele. Dicht beschrieben. Er greift rasch das Bündel und steckt es zu sich, die Ehefrau öffnet die Küchentür, und sie trinken Tee und reden über Belangloses. Dann geht er durch Rigas Dunkel zum Hotel. Niemand folgt ihm. Nimmt er an.
    Drei Tage später geht er durch die Passkontrolle, das Briefbündel in der Unterhose versteckt, wie ein Suspensorium zwischen die Beine geklemmt. Keine Probleme. Der Vorsitzende des Schriftstellerverbands und seine Sekretärin verabschieden ihn offiziell am Flugplatz. In der Maschine wie üblich ein Glas Champagner und ein Apfel.
    Am nächsten Tag überbringt er Bruno Kalnins die Texte, der hoch erfreut wirkt.
    Ein Jahr später, das Buch ist erschienen, sitzt er eines Abends mit Bruno K. zusammen und erinnert sich plötzlich an die Briefe. Er fragt, was Menders geschrieben habe, und ob es etwas Interessantes gewesen sei.
    Kalnins sieht ihn da mit einem eigentümlichen

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