Ein anderes Leben
schließlich für den herzkranken Menders verheerend. Man konnte es auch sehr einfach formulieren, ohne schönende Umschreibungen.
Er hatte Fricis Menders in die Deportation geschickt.
Ist er naiv? Kaum.
Versteht er nicht? Er versteht.
Ist er rücksichtslos?
Auf diese Frage will er noch keine Antwort geben. Man darf nicht mit Menschenleben spielen. Er bewegt sich während der Gespräche in Riga mit vorsichtigen Schritten im sowjetischen Dschungel, aber er hört es um sich her tapsen. Er will nicht aufgeben, so gesehen ist er rücksichtslos. Er lernt jedoch, jeden Tag. Der Fall Menders lehrt ihn auch etwas. Die anderen Fälle sind anders, aber ähnlich geartet. Er weiß, dass er dabei ist, einen Roman zu schreiben, der keinem anderen gleicht. Ja, deshalb ist er im Begriff, rücksichtslos zu werden. Im Begriff? Aber hält er vorher inne?
Er befindet sich weit entfernt vom Dorf. Er erkennt die Fragen.
Bei Wanderungen im sowjetischen Dschungel ergaben sich mit der Zeit interessante Erfahrungen.
1984 macht er eine Reise durchs Baltikum und schreibt eine Artikelserie für Expressen . Das Jahr ist ein Wendepunkt im Kommunismus, er sieht es, aber er versteht es noch nicht. In Riga besucht er eine Baptistenfamilie, die aufgrund ihres geisteskrank beharrlichen Festhaltens am Glauben in elenden Verhältnissen lebt; trotz einer Universitätsausbildung sind die Erwachsenen zu Parkfegern deklassiert. Die hartnäckige Weigerung von Baptisten und Pfingstfreunden, sich staatlich kontrollierten religiösen Organisationen anzuschließen, versetzt die Behörden in starke Nervosität. Schon eine Stunde – Rekord – nach seiner Rückkehr ins Hotel ruft eine anonyme Person aus dem ›Außenministerium‹, also sicher vom KGB, an und sagt ihm, er sei einer Provokation ausgesetzt und solle auf der Stelle diese Kontakte beenden. Offenbar Raumdeckung, das heißt Mikrofone.
Dies alles wenig überraschend.
Merkwürdiger ist jedoch die Reaktion auf Artikel, die er auf derselben Reise über den wirtschaftlichen Zusammenbruch in den baltischen Staaten schreibt. Niedergang, erbärmliche Verhältnisse auf dem Lebensmittelsektor; in Riga hat man im letzten Jahr in den Läden kein Fleisch kaufen können. Und so weiter.
Nach seiner Rückkehr ruft der sowjetische Botschafter entrüstet beim Chefredakteur Bo Strömstedt an und kritisiert die gegen die sowjetische Wirtschaft gerichtete Schmutzkampagne. Der Autor, meint er, sei unter falscher Flagge gereist, er sei in Wirklichkeit Journalist, und in Zukunft werde jeder Antrag auf ein Visum abgelehnt werden, dieses Megaphon für Radio Free Europe, das ihn im übrigen zitiert habe, sei ein Betrüger.
Er findet die Reaktion im nachhinein interessant. Er stellt fest, dass man möglicherweise über die sowjetische Unterdrückung der Meinungsfreiheit schreiben kann, das ist ja das Normale. Darüber schreiben alle. Daran hat man sich gewöhnt. Aber dass man unter keinen Umständen die heiligste der kommunistischen Kühe in Frage stellen darf: die Vorstellung vom unaufhaltsamen Wachstum. Dass die Entwicklung unter dem Kommunismus, trotz Problemen mit Dissidenten und Baptisten und dergleichen, ständig aufwärts zeigt. Wenn auch nur um 2,3 Prozent jedes Jahr. Es geht unaufhaltsam aufwärts.
Tatsächlich hat er – in diesem Jahr 1984 im Baltikum, dem es gut ging und dessen Sowjetrepubliken man dem westlichen sowjetischen Speckgürtel zurechnete – jene wirtschaftliche Implosion wahrgenommen, die sechs Jahre später den Kommunismus zusammenbrechen ließ. Er hat gesehen, aber nicht verstanden. Wie alle anderen geht er von der Unumkehrbarkeit des kommunistischen Systems aus. Es ist eben unaufhaltsam .
Er sieht, stellt fest, zieht aber keine Schlussfolgerungen. Der Gedanke an den bevorstehenden Zusammenbruch ist ja undenkbar.
Aber kein Visum mehr, bis zum Fall der Mauer.
Der Fall Menders war ein erschreckendes Lehrstück über die Beschaffenheit der Bedingungen. Der Fall lag am Rande der eigentlichen Untersuchung über die Auslieferung der Balten, aber in gewisser Weise auch mitten darin.
Der Blick auf die hundertsechsundvierzig Ausgelieferten wird ja auch dadurch gefärbt, wer sie waren. Welchen Hintergrund sie hatten.
Und was diese Mitglieder der lettischen Waffen-SS getan hatten.
Die Auffassung der Exilgruppen war ja, dass es sich ausschließlich um Eliteverbände gehandelt hatte, die keinesfalls mit der SS verwechselt werden durften. Die zum Teil in den befreiten, also den besetzten Ländern
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