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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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ärgerlich, weil ich Mama nicht fand, der ich erzählen mußte, wie völlig ungerecht Fräulein Seeberger meine französische Arbeit bewertet hatte. Meine Hände waren noch etwas feucht, als ich in den Salon ging, wo ich Stimmen hörte.
    Papa und Mama saßen in nicht ganz gelöster Haltung in den Sesseln, als seien sie bei sich selbst zu Gast, und hatten sich augenscheinlich längere Zeit über Unangenehmes unterhalten. Papa allerdings hielt die Sache nun für genügend beredet. Ich merkte es an der Art, wie er aufstand und ins Atelier zurückkehrte. Mama drehte an ihrem Ring — wie gewöhnlich erschien kein dienstbarer Geist — und fragte mich, vorsichtig das Konditionalis als grammatikalische Form wählend: «Was würdest du sagen, wenn wir diese Wohnung aufgäben?»
    «Aufgeben? Ja, warum denn, um Gottes willen?» Ich liebte die Wohnung, den Klang ihrer Türen, den Geruch nach Parkett und Ölfarbe, den Korridor, in dem früher meine Schaukelringe gehangen hatten, ja sogar den kleinen eisernen Balkon, von dem aus man blinden Leierkastenmännern eingewickelte Zehnpfennigstücke zuwerfen konnte. Ich konnte mich an keine Zeit erinnern, in der wir nicht in dieser Wohnung gelebt hatten. «Aber hier sind wir doch zu Hause», sagte ich völlig töricht.
    «Zu Hause», sagte Mama zurückhaltend, «ist man immer da, wo die Eltern sind.» Sie fügte hinzu, daß es ja gar nicht so eile, ich solle erst mal zu Ostern die Schule fertigmachen. Wir würden die Wohnung sicherlich nicht vor 1. Juli loswerden.
    Ich beruhigte mich zusehends. Am 1. Juli waren die großen Tanzstundenfeste vorüber, und bis dahin hatten die Eltern sicherlich eine andere, ebenso schöne Wohnung gefunden. Doch nein, Mama sagte, ohne die Stimme zu heben, daß wir überhaupt aus München wegzögen. Ich hörte, ohne zu begreifen, daß es so etwas wie eine Devisensperre gäbe, die das Geld der Eltern nicht mehr nach Deutschland hereinließe.
    Ich wußte nichts von Devisen. Eine Devise war für mich etwas, das ein Ritter auf sein Wappen schrieb. Mama ließ mir auch keine Zeit, darüber nachzudenken, wie das alles mit unserem Geld zusammenhängen könnte, sondern machte mich in begeistert munterem Ton darauf aufmerksam, wie amüsant es für mich sein würde, die Sommer in Seeham und die Winter mit den Eltern im Ausland zu verbringen. Alle meine Freundinnen würden mich beneiden.
    «Und Ulf? Und Miezi?» fragte ich, «können die mit ins Ausland?»
    Mama drehte den Ring ein letztes Mal, versicherte, daß sich schon jemand finden würde, der mit den beiden Tieren im Winter in Seeham das Haus hüte, und bat zum Essen.
    War es die Gegenwart unserer Amerikaner, oder hatten die Erwachsenen geheime Methoden, ihre Probleme zu besprechen und zu lösen? Bei Tisch hörte sich alles ganz einfach an, besonders wenn man es ins Englische übersetzte. Ein Teil der Möbel würde beim Auflösen der Wohnung auf einen Speicher kommen, bis ich eines Tages heiratete. Ich errötete und versuchte, bescheiden meiner Nase entlang herunterzublicken. Daß ein solches Ereignis plötzlich in den Bereich des Möglichen rückte, war sehr aufregend. Der Rest der Möbel aber mußte nach Seeham hinaus. Es wurde sofort klar, daß das Häuschen für einen solchen unvorhergesehenen Fall viel zu klein war. Bruder Leo, der sich gedankenvoll ein viertes Mal vom Nachtisch nahm, schlug vor, einen großen Raum über Eck anzubauen, damit es doch nach etwas aussähe. In Anbetracht dessen, daß Seeham nun unsere einzige bleibende Statt werden würde, sollte dieser Raum aus Backsteinen gemauert werden.
    «Aber dann sieht doch das Althaus aus wie die Scheune vom Neuhaus?» wandte ich ein.
    Leo krauste verächtlich die Nase. «Phantasie hast du keine, wie? Er wird natürlich innen und außen mit Holz verschalt, damit er aussieht wie der Rest. Sonst noch Fragen?»
    Es gab noch eine Menge Fragen, aber ich kümmerte mich nicht um ihre Beantwortung. Ich hatte die kommenden Wochen und Monate viel zu tun. Ich mußte bis zum Abschlußexamen meines Lyzeums noch alle die Kapitel Kirchengeschichte und Biologie nachlernen, bei denen ich geschlafen oder mir Romane ausgedacht hatte. Wenn ich nicht gerade büffelte, feierte ich Abschied von unseren Amerikanern und war etwas schockiert, daß Mama sie mit ehrlicher Erleichterung nach Connecticut und Massachusetts heimsegeln sah. So sehr sie auch zur Familie gehört hatten, nun war sie froh, ihre Zimmer ausräumen und abschließen zu können.
    Eines Tages kam dann der

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