Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
Vom Netzwerk:
Möbelwagen und nahm die Sachen für den Speicher mit. Draußen auf der Straße, neben den weitgeöffneten Polstertüren des Möbelwagens, sahen unsere schönen Sachen seltsam verblichen und schäbig aus. Mich überkamen Zweifel, ob ich sie dem Prinzen von Wales noch in die Ehe mitbringen durfte. Mich überkamen an diesen Tagen überhaupt mancherlei Zweifel, so auch daran, ob es wirklich so amüsant in den fremden Städten sein würde, so viel amüsanter als in München, wo ich jede Trambahnlinie und die Anfangszeiten aller Kinos kannte. Gedankenvoll ging ich durch den Korridor, der nun ohne die großen Wäscheschränke geradezu unsinnig breit war. In der dunklen Ecke, in der früher meine Schaukelringe gehangen hatten, entdeckte ich oben an der Wand die Worte: «Der Leo ist ein Aff» in meiner ersten krakeligen Schrift. Jetzt wußte ich mit einem Male, warum ich in den letzten Tagen so saurer Stimmung gewesen war: meine Kindheit war zu Ende. Sie wurde soeben draußen in den Möbelwagen verpackt. Und auf diesen Augenblick hatte ich mich doch immer gefreut, zu dumm. «Kommt der Flügel mit nach Seeham?» fragte ich, obwohl ich mir die Antwort hätte denken können.
    «Mensch, du bist ja blöde», meinte Bruder Leo, «in den Schuppen vielleicht? Der wird verkauft.» Zu meinem Erstaunen fühlte ich, wie es mir heiß in die Augen stieg. Und dabei hatte ich mit solchem Widerwillen Schumanns Ersten Verlust und den Fröhlichen Landmann geübt. Aber ich sah mich wieder als Sechsjährige darunter sitzen, wenn Papa oder Leo spielten. Sie spielten immer auswendig und darum im Dunkeln, so lag das Licht, das von der Straßenlaterne durch die bodenlangen Vorhänge hereinfiel, in geheimnisvoll zitternden Flecken auf dem Parkett. Ich träumte wundervolle Dinge, während die Töne so nahe über mir dahinrauschten, und zwischendurch kratzte ich den Kopf des Leopardenfells, auf dem ich lag, an seiner trockenen harten Nase.
    Worauf würden Papa und Leo in Zukunft spielen? Würden wir ein stummes Haus sein und nur noch Bücher lesen? Nun, dachte ich und schluckte mehrmals leer, in den großen Städten der Welt konnte man ja in Konzerte gehen, und die Villa am Cap d’Antibes war auch nicht schlecht, die die Zukunft bringen würde.
    Nach einer Woche der Ungemütlichkeit, des Packens und Kramens und Sichbehelfens kam Bruder Leo, der vorausgefahren war, wieder nach München, um uns abzuholen. Sofort bemächtigte sich der ganzen Familie eine frohe Aufbruchstimmung. Ich hörte gar nicht hin, was Leo mir da über einen weiteren kleinen Raum mit Betonfußboden als Notküche, Waschküche oder Bad erzählte. Vorstellen konnte ich ihn mir sowieso nicht, und ich war viel zu gespannt, was wir vorfinden würden. Die Spannung übertrug sich nicht auf die Eltern und das Mädchen Emma, wohl aber auf die Tiere. Ulf zerrte mit aller Kraft an der Leine in die falsche Richtung, Miezi miaute gedämpft in ihrem Frühstückskorb. Als wir diesmal vom Landungssteg kamen und bei der alten Mühle um die Ecke bogen, waren wir von der neuen Silhouette des Hauses geradezu begeistert. Es hatte sich nicht eigentlich verändert, es war nur gereift und würdiger geworden. Über Eck, sozusagen in zwei Flügeln lag es da. Das Lindenstämmchen, das wir im vorigen Sommer aus Versehen in der Nähe des Haselnußstrauchs in die Erde gestopft und festgetreten hatten, war gut gediehen, es schmiegte sich an den neuen Ostgiebel und warf schon ein wenig Schatten. Und wie schön die beiden Stauden Phlox blühten! Sie dufteten wie der Sommer persönlich nach Honig und Gras und nach den kleinen grünen Käfern, die einem in die Nase kriechen. Ulf rannte, die Schnauze am Boden, in wedelnder Wiedersehensfreude hin und her. Miezi war reservierter, sie schlug abwehrend einige Male mit dem Schwanz und trollte sich dann in die Wiesen. In der ersten Verwirrung über das Landleben fraß sie falsche Mäuse und spie sie wieder, pedantisch nebeneinandergeordnet, auf Mamas Bettvorleger.
    Wie niedrig die Zimmer doch waren, und wie sie nach Harz rochen! Da hingen auch noch die beiden alten Sommerkleider am Haken, die ich schon voriges Jahr hätte verschenken sollen!
    Das Mädchen Emma nahm geruhsam die Küche wieder in Besitz und sagte: «Naa, naa, da bin i platt!» als sie das richtige Suppensieb nicht gleich fand.
    Leo führte uns feierlich in das große, neue, noch leere Zimmer. Er öffnete die Tür, und Mama, die als erste eintrat, sagte zuerst: «Ah!» und dann biß sie sich fürchterlich auf

Weitere Kostenlose Bücher