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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Mama und ich setzten uns hinter den Bretterzaun des Mädchenbades, hinter dem sich sonst die Schulklassen an- und auszogen, genossen die Sonne und die Stille, und ich las ihr eine Novelle von Keyserling vor. Ulf lag unter der Bank und kratzte sich ununterbrochen, obwohl wir ihn erst kürzlich in Tabaklauge gebadet hatten. Er ahnte nicht, daß ihm ein Umzug in die Stadt bevorstand.
    Ich war im französischen Lehrbuch noch nicht über Kapitel 5 hinaus, da mußten wir die Saison abschließen. Wir gewöhnten die Katze daran, in einem gepolsterten Deckelkorb zu schlafen, in dem wir sie transportieren wollten, motteten die Decken ein, leerten die Blumenkästen auf den Komposthaufen aus, zogen die Vorhänge zu, drehten das Wasser ab und brachten die Schlüssel zum Nachbarn. Mit Koffern und Tieren versammelten wir uns auf dem Landungssteg, als der Dampfer seine Rauchfahne zeigte, und nahmen herzlich, ja wehmütig Abschied von denjenigen Seehamern, die wir dort herumstehend antrafen. Ulf klemmte den Schwanz zwischen die Beine und versuchte, uns unter die Röcke zu kriechen, so sehr fürchtete er sich.
    Dem Mädchen Emma, im Sonntagshut, auf dem seltene Vögel nisteten, war nicht anzumerken, ob es sich wieder auf Gasfeuerung und Wasser aus den städtischen Reservoiren freute. Papa beschattete die Augen und blickte mit unverhohlenem Bedauern über die hellblaue, sich kräuselnde Fläche des Sees hin. «Schade», sagte er halblaut, «heute beißen sie bestimmt, vielleicht sogar ein Hecht.» Mama sah ihn von der Seite an und nahm sich vor, ihm einen besonders schönen, großen Angelschellfisch aus der Nordseehalle zu kaufen, sobald wir wieder in München sein würden.
    Bruder Leo saß mit einem Kriminalroman von Sven Elvestadt in der Kajüte und hatte gegen den unvermeidlichen Zugwind den Kragen hochgeschlagen. Diesmal brauchte man mir nicht zu zeigen, wo das Dach unseres Hauses durch die Uferbäume schaute. Ich wandte kein Auge von der Stelle. Im Geiste sah ich schon, wie die Blätter der halbhohen Bäumchen und Büsche vom Herbstwind herumgestreut wurden, wie der Schnee fiel und das Dach sich über das Haus spreizte wie eine Glucke.
    Dann wandte ich mich ab, mit der Nase in die Fahrtrichtung. Es hatte keinen Sinn, sagte ich mir, sich an so ein Feriendomizil allzusehr zu attachieren. Ich würde in meinem Leben wohl nicht viel Zeit dort verbringen. Sollte ich nicht für Hollywood entdeckt werden, und auch der Prinz von Wales mich zufällig nicht heiraten, so gab es noch immer andere schwindelerregende Möglichkeiten. Wenn ich mir lange genug die Haare bürstete, bescheiden und liebenswürdig war und mir das dumme Nägelkauen abgewöhnte, dann, so hatte Mama durchblicken lassen, würde ich es weit bringen. Wie weit, hatte sie nicht gesagt. Ob die Villa an der Riviera, auf deren Marmorterrasse ich in meinen Träumen stand, wohl zu weit war?
    Etwas schuldbewußt blickte ich über den See zurück zu den Gestaden, die ich dann in meinem Rolls-Royce nebst Chauffeur gelegentlich kurz besuchen würde.
    Das Ufer war nur noch ein dunkler Strich, dahinter türmten sich grüne Hügel, auf denen die Schatten ungeheurer Kumuluswolken lagen. Von dem Dorfe Seeham und unserem Hause war nichts mehr zu sehen.
     
     
     

2
     
    Der Winter war trotz der ständigen Verhinderung durch die Schule sehr abwechslungsreich. Ein Tanzstundenfest jagte das andere, und außerdem hatten wir in einigen Zimmern unserer viel zu großen Wohnung junge Amerikanerinnen aufgenommen. Wir sprachen zunächst vor ihnen laut und deutlich unser nachweislich gutes, dialektfreies Deutsch, damit sie es lernten. Das ließ bald nach. Nach etwa drei Monaten konnte ich gut Amerikanisch. Es war ein klein wenig seltsam, so viele ganz andere Leute bei Tisch zu haben, die so starke Parfüms benutzten und einen nach Sehenswürdigkeiten fragten, die man selber nicht kannte. Ich lernte München zeigen und profitierte eine Menge dabei. Die amerikanischen Mädchen und Jungen, zwischen neunzehn und einundzwanzig, was mir damals uralt vorkam, waren reizend. Wenn mich etwas an ihnen störte, dann nur das Herzklopfen, das ich bekam, wenn das Telefon klingelte, und dann war es nicht für mich, sondern für sie. Im Sommer würden wir sie einen nach dem anderen mit hinaus nach Seeham nehmen, ich freute mich schon sehr darauf.
    Eines Tages kam ich heim, schleuderte die Schulmappe in mein Zimmer und raste den roten Kokosläufer entlang nach hinten, um mir im Bad die Hände zu waschen. Ich war

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