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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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die Zunge, weil sie die Stufe hinuntergestolpert war. Aus unerfindlichen Gründen lag der neue Raum tiefer als der Rest des Hauses. Ehe Leo daher mit seinen Erklärungen begann, griff er in die Brusttasche nach dem Bleistift und malte an die Tür: Achtung Stufe!
    Zu dem darüberliegenden Bodenraum, der alles aufnehmen sollte, was sich nicht verteilen ließ, gelangte man nur über ein Laufbrett, das für gewöhnlich im Stiegenhaus an der Wand hochgeklappt wurde. Die Gäste der folgenden Sommer tasteten sich mit halbgeschlossenen Augen und abgespreizten Händen hinüber, als sei es eine Hängebrücke aus Lianen; wir aber trugen schon am nächsten Tag eichene Truhen mit Geschirr, die Bettkiste und den großen Schrank darüber, ohne daß das Brett auch nur ächzte.
    Als der Möbelwagen den Feldweg zum Dorf zurückschwankte, war es mit der Stileinheit des oberbayerischen Sommerhauses für immer vorbei. Das eingelegte Kommödchen, das Mama nicht missen mochte, und der Mahagonischrank konnten Zusehen, wie sie sich mit den rohen Fichtenholzhockern und den gewürfelten Leinenvorhängen vertrugen. Urgroßmamas Alabasteruhr unter ihrem Glassturz sah vor den Astlöchern der Bretterwände etwas befremdlich aus. Die Teppiche, die der Weber aus unserer Textilvergangenheit gewebt hatte, paßten überall gut hinein und hatten nur den Nachteil, daß Mama sich zehnmal am Tag nach ihnen bücken mußte, um die Fransen geradezuschütteln.
    Viele Sachen, für die noch kein Platz gefunden worden war, drückten sich schüchtern auf der Veranda herum. Vor das Mansardenfenster auf dem neuen Bodenraum — kurz Anbaubo genannt — kam die alte Küchenkommode mit den vielen Fächern als Reparaturwerkstätte und Basteltisch, den weder Mama noch ich jemals aufräumen durften, von dem Mädchen Emma ganz zu schweigen, und den alsbald eine Aura von Staub und Männlichkeit umgab.
    Ein geistiges Elaus in der Stadt zu besitzen, war soeben noch etwas Mögliches gewesen. Ein geistiges Sommerhaus zu haben, war ein schier unlösbares Problem. Wohin mit den Büchern und Kunstmappen, den Noten ohne den dazugehörigen Bechsteinflügel und der unerschöpflichen Flut von Bildern: solchen von berühmten Leuten, solchen von mittelberühmten, die Papa nahegestanden hatten, und denen, die Papa selbst gemalt hatte? Wir rissen die Verschalung der Wände auf, um zu sehen, ob sich nicht als Isolierung Bücherreihen verwenden ließen. Keinesfalls in die Wand sollte jedoch das Konversationslexikon, das auch in München stets griffbereit im Eßzimmer gestanden hatte. Zum Unterschied zu anderen Familien, in denen es bestenfalls der herangewachsenen Jugend dazu dient, sich darin Aufklärung über Unanständigkeiten zusammenzusuchen, gehörten bei uns diese zweiundzwanzig Bände so zum täglichen Leben wie der Schuhlöffel und der Brieföffner. Bruder Leo las nach Tisch darin mit dem gleichen Genuß wie in einem Kriminalroman, Papa untermauerte damit bei jeder Gelegenheit sein vielseitiges Wissen. Er haßte alles Ungefähre und stellte Irrtümer, die sich in sein außergewöhnlich gutes Gedächtnis einzuschleichen drohten, mit Behagen richtig: Jahreszahlen, chemische Formeln, politische, zoologische Belange.
    «Kinder, das hat doch Zeit bis nachher», pflegte Mama vorwurfsvoll zu sagen, wenn während des Essens einer von uns die Serviette auf den Tisch warf und ans Konversationslexikon stürzte, um nachzusehen, wie viele Kaiser mit dem Namen Maximilian es gegeben hatte, oder bei welcher Gelegenheit die Beulenpest zum ersten Male ausbrach. Es war nicht anzunehmen, daß sich an dieser unserer Gewohnheit, die Quelle der Bildung aufzusuchen, im Sommerhäusl etwas ändern würde.
    Wir probierten das Lexikon hierhin und dorthin, es war zu umfangreich. Als mir die Bände «Hautgewebe bis Ionicus» und «Rio bis Schönebeck» beim ratlosen Herumtragen zum zweiten Male heruntergefallen waren, griff Leo rigoros durch. Er räumte, Mamas schwache Proteste überhörend, ein ganzes Fach des Glasschrankes aus. «Wozu», fragte er, «brauchen wir alle diese Römer und Griechen und das ganze Zeug? Wir trinken hier draußen bestimmt nur Bier. Schau mal, wie schön der Meyer hier hineingeht!»
    Wohin jedoch mit den Gläsern? Wir lernten die sogenannten «Abseiten» schätzen, für die wir Bruder Leo noch nicht genügend gelobt hatten, jene mit Schnappschloßtüren versehenen abgeteilten Dachschrägen, durch die auch der letzte freie Raum ausgenutzt wurde. In ihnen verschwanden alle Koffer, die

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