Ein bisschen schwanger
immer verstopften Abflussrinne sammelten sich haufenweise welke Blätter. Trotzdem: In den Sieben-Uhr-Nachrichten hatten sie gesagt, dass der Sommer in dieser letzten Ferienwoche noch einmal zurückkehren werde. Es solle 28 Grad warm und wolkenlos sonnig werden. Ich legte den Kopf in den Nacken, blickte in den weiten, blauen Himmel, breitete die Arme aus. Diesen Tag hatte ich mir verdient. Ich durfte ihn nutzen, wie ich wollte. Zum Beispiel mein Rad aus dem Keller holen und zum Parkfreibad fahren, allein. Oder meinen Farbkasten vom Schrank nehmen, mich auf meinen schattigen Balkon setzen, meine Lieblingsmusik hören und malen. Allein! Niemand würde mich daran hindern, niemand mich voll quatschen, niemand mich auf seinen Schoß ziehen und festhalten. Ja!
Aus einer der unteren Wohnungen zogen Kaffeeduft und Zigarettenrauch herauf. Man hörte die Geräusche eines sommerlichen Montagmorgens: Gähnen, Geschirrklappern, Wellensittichgeflöte, Staunachrichten, Musik. Melanies Katze Jule schrie in der Wohnung im ersten Stock, das Kleinkind aus dem Erdgeschoss krabbelte in den Garten hinaus auf den lebensgroßen Teddybären in den Farben von Borussia-Dortmund zu und der laue Wind trug die Rufe der Tiere aus dem benachbarten Zoo herüber.
Die Nähe zum Zoo gefällt mir an unserer Wohnung am meisten. Wenn ich bei geöffnetem Fenster schlafe, erwache ich morgens vom Geschrei der Pfauen, dem Bellen der Seehunde und Brüllen der Löwen. Das ist nur in meinem Zimmer möglich, dem größten und schönsten der Wohnung, denn Fenster und Balkon liegen an der Rückseite des alten Jugendstilhauses. Hinter der Hecke des kleinen gemeinsamen Gartens, in dem Mellis und meine Mutter im Sommer Kaffee trinken und der BorussiaFan-Club am Ende eines erfolgreichen Spieltages Würstchen grillt, schließt sich nach einer Reihe hoher Pappeln, der träge in ihrem Betonbett fließenden Emscher und einem holprigen Uferweg bereits das eingezäunte Tierparkgelände an.
Bisher haben schon viele Leute, die uns besuchten, diese Nähe zum Zoo beängstigend gefunden. »Was macht ihr, wenn doch mal ein Tiger ausbricht?«
Mein Vater, der Pressereferent der Zooverwaltung ist, pflegt dann jedes Mal in einer Beschützergeste die Arme um mich und meine Mutter zu legen und lächelnd zu erklären, dass eine solche Gefahrensituation ganz und gar unwahrscheinlich sei.
So ein Tiger könne theoretisch gar nicht ausbrechen, und falls der Fall der Fälle doch einmal einträte, dass den Tierpflegern ein Fehler unterliefe oder gar die Sicherheitssysteme ausfielen, müsse das Raubtier ja zunächst durch die stinkige Emscher schwimmen, bevor es in unseren Garten kommen könne. So hätte er, mein Vater, immer noch genug Zeit, seinen Kaffee auszutrinken und in aller Ruhe zu handeln. Zudem werde wahrscheinlich selbst ein guter Schwimmer wie der Tiger gar nicht mehr allein aus der Emscher herauskommen.
Ich warf einen Blick zu dem Gewässer hinüber. Es stank heute nicht, überhaupt kommt es nur sehr selten vor, dass der unangenehme Geruch bis zu unserer Wohnung vordringt. Früher ist die Emscher sicher mal ein feines Flüsschen gewesen, jetzt handelt es sich um einen Abwasserkanal mit extrem glitschigen und steilen Ufern, in dem im Laufe der Zeit schon etliche Hunde, Kinder, aber auch Erwachsene ertrunken sind.
Patrick leider nicht.
Ich biss mir auf die Lippe, meine gute Laune bekam bei dem Gedanken an ihn schon wieder einen Dämpfer. Nachdem er sich einige Tage gar nicht hatte blicken lassen, war er gestern Abend zurückgekehrt. Meine Eltern hatten davon nichts bemerkt.
Ich hatte ihn, als ich am Fenster vorbeiging, am Abhang auf der anderen Uferseite stehen sehen. Der lehmige Boden unter seinen Füßen war vom Regen der letzten Tage stark aufgeweicht und rutschig. Es passierte, während er damit beschäftigt war, Fotos aus unserer gemeinsamen Zeit einzeln und in hohem Bogen in das Abwasser zu werfen. Er stolperte, glitt aus und kam ins Rutschen. In dem Moment, als er den Halt verlor, drückte ich mein Gesicht näher an die Scheibe. Der Vorhang, der mich zuvor verdeckt hatte, verrutschte und unsere Blicke trafen sich.
Es schien mir, als weiteten sich für Sekundenbruchteile seine Augen, die plötzliche Angst ließ die Augäpfel hervortreten.
Dann aber kriegte er den herabhängenden Ast eines Baumes zu fassen und krabbelte hastig an einen sicheren Platz zurück. Er war gerettet, hatte wieder mal Glück gehabt.
Mein Herz hatte genauso schnell geschlagen wie vorher, nicht
Weitere Kostenlose Bücher