Ein bisschen schwanger
Tribunal aus lehrerhaften, religiösen alten Tanten treten zu müssen. Glücklicherweise war das aber überhaupt nicht der Fall. Niemand hatte vor, mir mit Gottes Strafe und dem Jüngsten Gericht zu drohen. Wir setzten uns zusammen an einen Kiefernholztisch, die Sonne schien durchs Fenster, von der Straße zog der Geruch einer Dönerbude herein, auf dem Tisch standen Kekse und Orangensaft, und das Erste, was die Sozialarbeiterin zu mir sagte, war, dass ich keine Angst zu haben brauche, den Schein für die Abtreibung des Kindes bekäme ich auf jeden Fall.
»Gut.« Ich schluckte. Mein Blick fiel auf eine bunte Holzeisenbahn, die neben dem Keksteller stand. »Ich will es nicht bekommen, weil ich nicht mehr mit dem Vater des Kindes zusammen sein will. Er hat mich sehr bedrängt, nie in Ruhe gelassen, er hat immer alles bestimmt, er war von seiner Liebe besessen, immer schnell eifersüchtig, immer schnell beleidigt, wenn ich mal keine Zeit für ihn hatte. Außerdem ist er auch irgendwie ein bisschen gestört, selbst jetzt verfolgt er mich noch, obwohl schon lange Schluss ist und ich einen neuen Freund habe.«
»Wenn du das Kind bekommst, heißt das ja nicht automatisch, dass du dich wieder mit ihm vertragen musst.«
»Ja, aber er wäre dann trotzdem immer da, er hätte dann ja einen Grund, dauernd bei uns aufzutauchen!«
»Dein Vater und ich würden uns schon darum kümmern, dass er dich nicht belästigt«, sagte meine Mutter.
»Ich will gar nicht, dass er von meiner Schwangerschaft erfährt!«
»Das muss er ja auch nicht«, sagte die Sozialarbeiterin langsam und fügte leise hinzu: »Letztendlich kann dich keiner dazu zwingen, zu sagen, von wem das Kind ist. Es könnte ja zum Beispiel auch von deinem neuen Freund sein … «
»Ist es aber nicht!«
»Das weiß Patrick doch nicht!«, mischte sich Rabea ein.
»Wichtig ist, Linda, dass du für dich entscheidest, ob du das Kind haben möchtest oder nicht. Wenn du es nicht bekommst, nur weil du Angst vor deinem Exfreund hast, diese Angst sich aber nach ein paar Wochen als völlig grundlos herausstellt – vielleicht hat er bald eine neue Freundin, vielleicht hat er ja jetzt schon eine, weißt du’s? –, dann wirst du es vielleicht bereuen, dass du deine Schwangerschaft seinetwegen abgebrochen hast. Und dann ist es nicht mehr rückgängig zu machen.«
»Das stimmt«, flüsterte Rabea.
Wir schwiegen einen Moment.
Dann erzählte die Beraterin von den Möglichkeiten, finanzielle Unterstützung zu bekommen, stellte Wohnprojekte für junge Mütter vor, berichtete von Patenschaften und öffentlichen Sozialleistungen, bis meine Mutter sagte: »Das wird nicht nötig sein.« Sie ergriff, vielleicht unbewusst, die Holzeisenbahn. »Wir stehen voll hinter unserer Tochter. Wenn Linda das Kind bekommen will, werden mein Mann und ich es selbstverständlich miternähren. Nicht nur wir werden uns Zeit für das Kind nehmen, auch Lindas Großeltern stehen dafür zur Verfügung.«
»Aber ich kann dann trotzdem nicht mehr machen, was ich will!«, rief ich. » Du hast doch auch auf deine ganzen Träume verzichtet, Rabea! «
»Schon«, gab Rabea zu, »aber dafür hab ich jetzt meine süße Anna. Obwohl du ja siehst, wie chaotisch es bei mir zugeht.« Sie lachte ein bisschen, und da wir alle ein wenig Aufheiterung brauchen konnten, erzählte sie von dem Vorbereitungsabend für die Party und Annas Wunsch, ein lebendiges Schwein zum Geburtstag zu bekommen.
»Oh je«, seufzte meine Mutter und ließ die Holzeisenbahn los, nur um sie im nächsten Moment wieder zu sich heranzuziehen. »Aber irgendwie sind solche Erlebnisse ja auch ein Geschenk.« Sie sah mich an.
Alle sahen mich an.
»Ich habe ja gar nichts gegen ein Kind«, sagte ich, »ich mag Anna ja auch und habe mir für später immer Kinder gewünscht. Aber eben für später.«
»Und nicht mit Patrick«, fügte Melanie leise hinzu. »Genau.«
»Gut«, die Beraterin sah mich freundlich an, »ich kann das verstehen und deinen Wunsch nachvollziehen. Du bist wirklich noch sehr jung.« Sie holte ein Formular aus einem Aktenordner, füllte es aus und heftete die Schwangerschaftsbescheinigung meines Gynäkologen dazu.
Während dieses Vorgangs sagte keine von uns ein Wort. Meine Mutter hatte sich von der Holzeisenbahn verabschiedet und knibbelte stattdessen an ihren Fingernägeln. Melanie saß ganz auf der Kante ihres Stuhls und schielte so verzagt auf eine bereits ausgefüllte Seite des Formulars, als säße sie in einer Klassenarbeit
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