Ein Buch für Hanna
strenger Kleidung und mit strengen Gesichtern hingen, stand ein Tisch mit großen Kannen Tee und mit Platten voller belegter Brote, dem berühmten dänischen Smørrebrød, über das sie herfielen, als hätten sie tagelang nichts mehr zu essen bekommen. Eine Frau las ihre Namen vor, wieder mit diesem dänischen Akzent, an den sie sich inzwischen gewöhnt hatten, dazu die Namen ihrer Gasteltern. »Hanna Salomon«, sagte sie, und Hannelore machte schon den Mund auf, um sie zu korrigieren, doch Schula warf ihr einen warnenden Blick zu und legte den Finger auf die Lippen, deshalb schwieg sie. Die Familie, zu der sie kommen sollte, hieß Golde.
Dann ging es sehr schnell. Jede der Frauen nahm zwei, drei Jugendliche unter ihre Fittiche, um sie zu ihrem neuen Zuhause zu bringen, sie schüttelten sich die Hände und das war der ganze Abschied. Hannelore, die von Schula selbst zur Familie Golde gebracht werden sollte, vermutlich weil sie die Jüngste war und Schula sichergehen wollte, dass alles klappte, stand an der Haustür und schaute Mira hinterher, die neben Rebekka und einer fremden Frau die Straße entlangging, sich noch einmal kurz umdrehte und ihr zuwinkte. Sie erinnerte sich an den Abschied von ihrer Mutter, auf dem Leipziger Bahnhof, und wie damals dachte sie: Ich habe ihr gar nicht richtig Auf Wiedersehen gesagt. Sie wollte Mira hinterherlaufen, sich an der Älteren festklammern, aber da stand auch schon Schula neben ihr.
»Ich will nicht«, sagte Hannelore. »Bitte, Schula …«
Doch Schula ließ sie nicht aussprechen, sie schob sie einfach in die entgegengesetzte Richtung.
Hannelore presste die Lippen zusammen. Betteln würde sowieso nichts nützen, das wusste sie. Schula lief so schnell, dass Hannelore Mühe hatte, ihr zu folgen. Sie wäre gern mal stehen geblieben, um ein Haus zu betrachten, ein Schaufenster, ein Denkmal, sei es auch nur, um die Ankunft in ihrem neuen Zuhause und bei den neuen Menschen, vor denen sie sich fürchtete, ein wenig hinauszuzögern. Dazu blieb ihr jedoch keine Zeit. Sie hastete hinter Schula her, und nur wenn diese stehen blieb, um den Stadtplan zu Rate zu ziehen, konnte sie sie einholen. Als sie sich endlich zu einer kurzen Verschnaufpause auf eine Bank setzten, auf einem großen, schönen Platz mit Blumenrabatten und einem Springbrunnen in der Mitte, sagte Schula plötzlich: »Wenn du gefragt wirst, wie du heißt, sagst du Hanna, verstanden? Nur Hanna. Wir haben deine Papiere schon geändert. Hannelore klingt einfach zu deutsch für Dänemark. Wir wollen doch keine unnötigen Schwierigkeiten, nicht wahr?«
Das könnt ihr doch nicht einfach machen, ohne mich zu fragen, dachte Hanna. Ihr könnt doch nicht einfach hergehen und aus mir eine andere machen. Doch dann fiel ihr Lea ein, die ihren Namen freiwillig geändert hatte, und der Satz ihrer Mutter: Ein jüdisches Kind darf nicht auffallen. Deshalb senkte sie den Kopf und sagte nur: »Wenn du es für besser hältst.«
So hatte sie ihren neuen Namen bekommen.
Das Haus, in dem ihre Gastfamilie wohnte, stand in einer Allee mit alten Bäumen, mit Vorgärten und breiten Auffahrten. Es war ein prachtvolles, in warmem Gelb gehaltenes Gebäude mit weißen Steingesimsen und Schnörkeln über den Fenstern und der Haustür. Hanna zog die Schultern hoch, das Haus war viel zu fein für sie. Sie folgte Schula in die Eingangshalle, die sogar größer und prächtiger war als die des Schlösschens in Ahrensdorf. Sie stiegen die breite, elegant geschwungene Treppe hinauf zum ersten Stock. Ein Dienstmädchen führte sie in einen Salon mit schweren, dunklen Möbeln, wo sie von Frau und Herrn Golde begrüßt wurden. Frau Golde war klein und rundlich, eine lebhafte, noch ziemlich junge Frau mit blonden Haaren, die zu einem Nackenknoten gesteckt waren. Herr Golde sah wesentlich älter aus, er war sehr lang und dünn mit einem ebenfalls langen, schmalen Gesicht. Schula blieb mit Herrn Golde im Salon, während seine Frau Hanna durch die Wohnung führte.
Die Goldes mussten wirklich reich sein, sechs Zimmer für vier Personen, die Köchin schlief in einer Kammer unter dem Dach, das Dienstmädchen wohnte außerhalb und kam jeden Tag für ein paar Stunden ins Haus. Im Kinderzimmer wurde Hanna auch von der elfjährigen Britta und dem achtjährigen Dani begrüßt. Britta hatte eine rote Nase und verquollene Augen und musste sich ständig schnäuzen. Ihr Bruder Dani stand dicht neben ihr und starrte das fremde Mädchen neugierig an. Aber als Hanna den
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