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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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nickte, tat, als glaube sie, was Mira sagte. In Wirklichkeit fühlte sie sich schon jetzt sehr allein und verlassen. Vor ihren geschlossenen Augen tauchte ein Bild auf, das Bild ihrer Mutter von damals, als Hannelore krank war und hohes Fieber hatte. Die Mutter machte ihr Wadenwickel, dann saß sie an ihrem Bett, wischte ihr immer wieder mit einem kalten Tuch die Stirn ab, hielt ihre Hand und sagte: »Keine Angst, Kind, deine Mama ist da. Deine Mama passt auf dich auf.« Hannelore spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Mama, dachte sie, ich wünschte, du wärst hier. Ich wünschte, du könntest auf mich aufpassen.

Viertes Kapitel
    D er Rollladen war nicht ganz heruntergelassen, das Mondlicht warf Streifen über Brittas Bett vor dem Fenster, breite helle Lamellenstreifen zerteilten das Gesicht und die Hände des fremden Mädchens, zerteilten die Bettdecke und versickerten im Teppich. Bis zu der Ecke, in der Hannas Bett stand, drang das Licht nicht vor, auch nicht zu der Ecke gegenüber, zu Danis Bett. Von dem Jungen war nichts zu hören, doch Brittas Atem kam in röchelnden Stößen aus ihrem geöffneten Mund und ab und zu schnappte sie laut nach Luft. Ich will weg, dachte Hanna. Was soll ich hier bei diesen Leuten? Die wollen mich doch gar nicht, zumindest Britta will mich nicht, das hat sie mir ganz deutlich gezeigt, und ihr Bruder macht ihr alles nach.
    Vielleicht lag es ja an Brittas Schnupfen, dass Hanna nicht einschlafen konnte. Oder daran, dass sie nicht aufhören konnte zu weinen. Sie wollte nicht weinen, trotzdem schüttelte es sie wie ein Krampf. Sie stopfte sich den Zipfel ihrer Zudecke in den Mund, um jedes Geräusch zu ersticken. Sie fühlte sich von allen verlassen, noch nie hatte sie sich so allein gefühlt. Sie sehnte sich nach Miras ruhigen Atemzügen, nach Rachels leisem Schnarchen. Stattdessen hörte sie das fremde Mädchen röcheln. Hanna spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte.
    Und dazu ein neuer Name.
    Gestern war sie noch Hannelore gewesen und hatte im Zelt geschlafen, auf der Pritsche zwischen Mira und Rachel, und jetzt hieß sie Hanna, und das Bett, in dem sie lag, war zwar weich und warm und stand in einem Kopenhagener Kinderzimmer, das größer war als die Küche und das Schlafzimmer der Leipziger Wohnung zusammen, trotzdem sehnte sie sich nach dem zugigen Zelt und den kratzigen Wolldecken.
    Ich heiße Hanna, dachte sie, ab heute heiße ich Hanna. Wird man eigentlich ein anderer Mensch, wenn man einen neuen Namen bekommt? Mein Gott, Püppchen, reg dich doch nicht auf, würde Mira sagen, Hannelore oder Hanna, das ist doch egal. Aber es war ihr nicht egal. Sie fühlte sich zerrissen, wusste nicht mehr, wer sie war. Hatte sie es eigentlich je gewusst? Früher hatte sie sich solche Fragen nie gestellt.
    Früher war es ganz klar gewesen, wer sie war und wohin sie gehörte, und wenn sie abends schlafen ging, hatte sie, zumindest ungefähr, gewusst, wie der nächste Tag ablaufen würde, was sie vermutlich essen würde, wen sie treffen und was sie den Tag über tun würde. Natürlich war das ein bisschen langweilig gewesen, aber auch irgendwie beruhigend. Alles war vorhersehbar gewesen, nennenswerte Veränderungen nicht zu erwarten, auch keine Überraschungen, weder schlimme noch erfreuliche.
    Wann hatte sich das eigentlich geändert? Als sie nach Ahrensdorf gezogen war, auf die Hachschara, oder erst am Bahnhof von Leipzig, als sie weggefahren war und ihre Mutter allein zurückgelassen hatte? Oder schon damals, als Janka abgeschoben worden war, oder am 10. November, als die Nazis Synagogen angezündet und jüdische Geschäfte zerstört hatten, als auch die große Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße abgebrannt war? Oder sogar noch früher, vor drei Jahren, als Helene Leipzig verlassen hatte und mit anderen aus ihrer Jugendgruppe nach Palästina ausgewandert war, um dort an der Gründung einer jüdischen Heimstatt mitzuarbeiten? Sie wusste es nicht. Sie war sich noch nicht mal mehr sicher, ob das, was jetzt mit ihr geschah, nicht ein Traum war, ob sie vielleicht gleich aufwachen würde, daheim in Leipzig, in ihrem Bett. Und dann fragte sie sich, ob sie das überhaupt wollen würde, daheim in Leipzig aufzuwachen.
    Dieser Gedanke erschreckte sie, er kam ihr wie ein Verrat an ihrer Mutter vor, ein Verrat an sich selbst. Aber wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass Leipzig in immer weitere Ferne rückte und das Bild ihrer Mutter von Woche zu Woche blasser wurde.

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