Ein Buch für Hanna
beiden zulächelte, lächelten sie nicht zurück, im Gegenteil, Brittas Gesicht verfinsterte sich.
Während Frau Golde wieder in den Salon ging, um sich noch mit Schula zu unterhalten, packte Hanna ihren Rucksack aus und räumte ihre Sachen ordentlich in die Schrankfächer, die Britta für sie hatte leeren müssen. Den Umschlag mit den Fotos ihrer Mutter und ihrer Schwester schob sie unter ihre Wäsche.
Britta verzog ihr hübsches Puppengesicht und sagte etwas auf Dänisch, nuschelnd wegen ihres Schnupfens und so schnell, dass Hanna nur die Worte »meine Sachen« und »Finger weg« verstand, aber der zornige, drohende Ton in der Stimme des Mädchens ließ keinen Zweifel aufkommen, sie wollte Hanna nicht hier haben. Dani, ein Lockenkopf, der seiner Schwester nicht mal bis zur Schulter reichte, stand feixend daneben. Hanna nickte nur. Von wegen nette Kinder, dachte sie, da hast du dich wohl getäuscht, Mira.
Auch in den folgenden Tagen blieb Britta abweisend. Wenn Hanna das Zimmer betrat, unterbrach sie das Gespräch mit ihrem Bruder und wandte demonstrativ den Kopf zur Seite. Wenn sie ihre Aufgaben machte, hielt sie, wenn Hanna vorbeiging, die Hand über das Geschriebene, als wollte Hanna bei ihr abgucken. Hanna fühlte sich immer unbehaglicher, und abends im Bett, wenn die beiden anderen eingeschlafen waren, weinte sie sich in den Schlaf.
Dani war der Erste, der die Feindseligkeiten aufgab. Als er einen neuen Mechanikbaukasten bekam und vergeblich versuchte, ein Flugzeug zusammenzubasteln, half Hanna ihm. »Danke«, sagte er und lächelte sie so breit an, dass seine großen Schneidezähne aussahen wie bei einem Spielzeughasen. Danach benahm er sich ihr gegenüber viel freundlicher. Auch Britta hielt ihre starre Haltung höchstens eine Woche lang durch. Dann forderte Rasmine, die Köchin, beide Mädchen auf, ihr beim Kuchenbacken zu helfen, und damit war das Eis gebrochen. Nicht dass sie Freundinnen geworden wären, aber sie ließen sich gegenseitig in Ruhe und es kam zu keinen weiteren giftigen Zwischenfällen. Wenn Britta Besuch von anderen Mädchen bekam, was sehr häufig geschah, ging Hanna einfach zu Rasmine in die Küche.
Die Köchin war eine ältere Frau, rund, mit weichen Bewegungen und einem freundlichen, geduldigen Wesen. Sie schien es als ihre Aufgabe anzusehen, dieses fremde, dünne Mädchen aufzupäppeln, denn wann immer Hanna die Küche betrat, stellte Rasmine ihr mit einem auffordernden Nicken etwas zu essen hin. Und Hanna aß. Sie genoss es, sich vollzustopfen. Derartige Leckerbissen hatte sie noch nie bekommen, und sie hatte auch noch nie einen solchen Appetit entwickelt. Sie war gern in der Küche und half Rasmine, ließ sich von ihr Kochen beibringen und lernte ständig neue Wörter. Rasmine war es zu verdanken, dass Hanna sich bei den Goldes bald nicht mehr so fremd fühlte. Und der Tatsache, dass sie sich, zusätzlich zu den wöchentlichen Gruppentreffen, die in einem Saal des jüdischen Jugendzentrums stattfanden, häufig abends mit Mira traf. Mit Mira konnte sie Deutsch sprechen. Eine Erholung nach den anstrengenden Versuchen, sich auf Dänisch verständlich zu machen. Das fand Mira auch. »Wenn man Deutsch spricht, ist es, als würde man an einem kalten Tag in ein warmes, gemütliches Wohnzimmer kommen«, sagte sie. Mira hatte nicht so viel Glück mit ihrer Gastfamilie, sie musste viel arbeiten und hoffte sehnsüchtig, die Organisation würde eine neue Familie für sie finden.
Hanna musste nicht arbeiten. Wenn sie Rasmine half, dann tat sie es freiwillig und weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte. Wenn Britta und Dani in der Schule waren, fühlte sie sich oft sehr verloren in dem großen Kinderzimmer. Und wie lange konnte sie schon am Fenster stehen und hinausschauen? Bald glaubte sie, jeden einzelnen Passanten zu kennen, jedes Blatt der Alleebäume, jeden Grashalm im Vorgarten, jeden Hund und jede Katze, jeden Vogel, der in den Zweigen herumhüpfte. Die Goldes hatten ihr an ihrem ersten Sonntag im Haus die Stadt gezeigt, das Rathaus mit dem großen Platz davor, zwei der drei Schlösser, vor allem das Amalienborg Slot mit der königlichen Garde, und sogar die Meernixe am Hafen, die Hanna aus ihrem Märchenbuch kannte und die hier Meerjungfrau genannt wurde, aber genauso aussah wie auf dem Bild in ihrem Buch. Die Prinzessinnen waren sechs reizende Kinder, aber die jüngste war die schönste. Ihre Haut war so fein und zart wie ein Rosenblatt und ihre Augen leuchteten so blau wie
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