Ein Buch für Hanna
der tiefste See. Aber sie hatte keine Beine: Ihr Körper endigte wie bei den anderen Meernixen in einem Fischschwanz.
Hanna fand Kopenhagen wirklich sehr schön, doch allein spazieren zu gehen machte ihr keinen Spaß. Die fremden Straßen und die vielen fremden Menschen waren ihr unheimlich, sie blieb lieber zu Hause. Es reichte ihr, dass sie allein zum Jugendzentrum gehen musste, und sie war jedes Mal froh, wenn sie wieder die Treppe zur Wohnung der Goldes hinaufstieg, obwohl die Gruppentreffen ihre einzige Abwechslung waren. Sie langweilte sich, die Untätigkeit machte ihr zu schaffen. Sie kannte ihr Märchenbuch inzwischen fast auswendig, aber es gab keine deutschen Bücher im Haus und Dänisch zu lesen war ihr noch zu schwierig. Wenn die Kinder in der Schule waren, setzte sich Frau Golde manchmal mit ihr hin, um ihr Unterricht in Dänisch zu geben, aber das geschah nicht oft, ihre ehrenamtlichen Verpflichtungen bei verschiedenen jüdischen Wohlfahrtsorganisationen ließen ihr wenig Zeit.
Nach einigen Wochen änderte sich alles. Frau Golde schlug Hanna vor, etwas zu lernen, an einem Kurs teilzunehmen. »Was möchtest du gern machen?«, fragte sie. »Für Steno und Schreibmaschine ist dein Dänisch nicht gut genug. Aber du könntest einen Kochkurs machen oder nähen lernen. Oder töpfern. Wir kennen einen Künstler, bei dem du lernen könntest, mit Ton zu arbeiten.«
»Töpfern«, sagte Hanna, ohne nachzudenken. Kochen lernte sie bei Rasmine, und wenn sie Nähen hörte, sah sie die entzündeten Augen ihrer Mutter vor sich. »Bitte, ich möchte töpfern lernen«, sagte sie noch einmal.
Und so kam sie zu Jesper Sørensen und seiner Frau Marie. Frau Golde brachte sie hin.
Sie hatte bei Töpfern an Geschirr gedacht, an Teller, Tassen, Kaffeekannen, Schalen und Vasen. Doch es war eine Märchenhöhle, die sie betrat. Von allen Regalen blickten ihr Prinzen und Prinzessinnen entgegen, Zwerge, Gnome, Drachen, Hexen. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Sie lachte, und auch später lachte sie jedes Mal, wenn sie die Werkstatt betrat. »Geschenke«, sagte Jesper, und seine Frau Marie sagte: »Davon leben wir.«
Jesper und Marie passten in diese Höhle, sie sahen selbst aus wie aus einem Märchenbuch, dachte Hanna. Jesper war knorrig und leicht verwachsen, man hätte ihn für einen Gnom halten können. Marie war einen halben Kopf größer als er, üppig und immer in wallende Gewänder gehüllt. Sie wiesen ihr einen Platz an und zeigten ihr, wie man Ton weich knetete. »Versuche es mit etwas Einfachem, vielleicht mit einem Haus und einem Baum«, sagte Jesper und Marie stellte ein paar Modelle vor sie auf den Tisch.
Hanna war nicht vorbereitet auf das Glück, das sie empfand, als sie das erste Mal mit Ton arbeitete. Sie war nicht vorbereitet darauf, dass ihre Finger ein Eigenleben entwickelten und sich mit einer Geschicklichkeit und einer Freude bewegten, die sie sich selbst nie zugetraut hätte. Der Ton, erst kühl und spröde, wurde beim Kneten warm und geschmeidig, es war, als erwache er unter ihren Händen, als warte er förmlich darauf, Gestalt anzunehmen. Ton war ein wunderbares Material, das es Hanna nicht übel nahm, wenn sie Fehler machte und etwas nicht hinbekam. Ton ließ sich, wenn man ihn ab und zu anfeuchtete, immer aufs Neue kneten, immer aufs Neue formen. Ton war lebendig, weich, glatt, und Hanna hatte das Gefühl, als hätten ihre Hände sich schon immer nach dieser Wärme, dieser geschmeidigen Glätte gesehnt.
Die Werkstatt von Jesper und Marie wurde in Kopenhagen zu Hannas eigentlichem Zuhause. Jeden Morgen, wenn sie aufwachte, war sie glücklich, weil sie wusste, sie würde wieder hingehen, heute, morgen, übermorgen … Jesper war sehr wortkarg, aber das war nichts Neues für sie, daran war sie gewöhnt. Marie redete zwar auch nicht viel, aber sie war freundlich und geizte nicht mit Lob. Sie war es auch, die mit dem Zwischenhändler verhandelte, der alle zwei Wochen kam und einen Karton mit Figuren abholte.
Die täglichen Wege zur Werkstatt erlösten Hanna aus ihrer Langeweile, endlich hatte sie etwas gefunden, das die Leere in ihrem Inneren ausfüllte. Schon bald entstanden unter ihren Händen die ersten brauchbaren Figuren. Jesper und Marie waren zufrieden mit ihr und Hanna fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft. In dieser friedlichen Atmosphäre empfand sie eine ganz neue Ruhe und Gelassenheit. Manchmal hob sie den Kopf und betrachtete das Bild, das zwischen den beiden Fenstern hing. Ein Engel,
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