Ein Buch für Hanna
schließlich habe Hitler 1934 mit den Polen einen Nichtangriffspakt geschlossen.«
Herbert stieß verächtlich die Luft aus, ein Geräusch, das wie ein Schuss klang. »Die Nichtangriffspakte, die Hitler schließt, sind das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben werden. Das hat mein Vater gleich gesagt und er hat recht behalten.«
Hannelore schaute von einem zum anderen. Ich hatte von all dem keine Ahnung, dachte sie, und meine Mutter hat auch nie so gesprochen. Warum eigentlich nicht? Hat sie es nicht gewusst, weil sie nie Zeitung liest und weil wir keinen Radioapparat haben? Oder hat sie nur nichts gesagt, weil wir sowieso kein Geld gehabt hätten, um woanders hinzufahren? Höchstens in ihr schtetl . Aber alle haben gesagt, in Polen ist alles noch viel schlimmer. Und jetzt sowieso.
»Wir haben getan, als ginge uns das alles nichts an«, sagte Rebekka. »Wir haben nur an uns gedacht, nur daran, was wir wollen. Wir haben geglaubt, es geht einfach so weiter, bis wir am Schluss nach Palästina fahren. Und dort scheint sowieso immer die Sonne.«
»Eine Seifenblase«, sagte Mira. »Eine Seifenblase. Und jetzt ist sie geplatzt.«
Bedrückt gingen sie auseinander.
Mira, Rachel und Hannelore machten noch einen Spaziergang zum See hinunter. Sie waren zu angespannt, um jetzt schon schlafen zu können. Es war dunkel geworden, am Himmel stand ein abnehmender Mond. Derselbe Mond wie über Leipzig. Hannelore wusste, dass die beiden anderen jetzt an ihre Familien dachten, Mira an ihre Eltern und den schönen Joschka, Rachel an ihren Vater, der seit Juli 1938 nur noch Juden behandeln durfte, an ihre Mutter und ihre kleine Schwester und an ihren Bruder, der vor zwei Jahren nach Prag gegangen war, um Medizin zu studieren.
Irgendwo schrie ein Käuzchen.
Hannelore betrachtete den See, in dem sich der Mond spiegelte. Der Wind, der abends immer aufkam, fuhr über das Wasser und ließ den Mond erzittern, als wäre er lebendig. Sie wagte nicht zu fragen, ob Krieg bedeutete, dass die Grenzen Deutschlands geschlossen wurden. Ob es hieß, dass sie ihre Familien lange nicht wiedersehen würden. Der Große Krieg hatte schließlich vier Jahre lang gedauert, von 1914 bis 1918. Das Bild ihrer Mutter tauchte vor ihr auf, wie sie an der Nähmaschine saß, mit geröteten Augen und der ewig laufenden Nase, eine kränkliche, traurige Frau, auf die sie jetzt nicht mehr aufpassen konnte, wie sie es Helene vor drei Jahren versprochen hatte.
Schweigend machten sie sich auf den Rückweg. Der Wind fuhr durch die Wipfel der Birken, das Rauschen der Blätter hörte sich an wie das ferne Rattern einer Nähmaschine. Wieder schrie das Käuzchen. Zweimal, dreimal. »Ein böses Omen«, sagte Rachel, und Mira fuhr sie wütend an, so etwas dürfe man noch nicht einmal denken, geschweige denn laut aussprechen. »Willst du das Unheil etwa heraufbeschwören?«
Die Tage vergingen. Am 13. September war der Vorabend von Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest, das sie diesmal nicht mit Liedern feierten. Nach dem Abendessen tauchten sie, wie es Sitte war, Apfelstücke in Honig und wünschten sich, das neue Jahr möge ebenso süß werden. Und wussten doch genau, dass das kommende Jahr alles andere als süß werden würde.
Krieg war nicht süß, nie.
Dann verkündete Schula, das Zeltlager werde irgendwann in den nächsten zwei Wochen aufgelöst werden, die einzelnen Mitglieder der Gruppe würden verschiedenen jüdischen Familien in Kopenhagen zugeteilt. Hannelore erschrak. »Jede allein?«, fragte sie. »Bitte, kann ich nicht bei Mira bleiben?«
Schula schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Jede Familie nimmt nur eine von euch. Wir müssen dankbar sein, dass sie dazu bereit sind, wir können keine Bedingungen stellen.«
Hannelore senkte den Kopf, um zu verbergen, dass sie mit den Tränen kämpfte, und Schula fügte tröstend hinzu: »Du wirst Mira und die anderen oft genug sehen, wir werden auch in Kopenhagen unsere Gruppentreffen abhalten.«
Als sie in ihren Betten lagen und Hannelore sich zusammenrollte, spürte sie plötzlich, wie Mira sich auf ihren Pritschenrand setzte und ihr mit der Hand durch die Haare fuhr, und sie hörte sie leise sagen: »Hab keine Angst, Püppchen, es wird bestimmt nicht so schlimm, wie du jetzt glaubst. Denk doch an die dänischen Mädchen, wie nett die waren. Vielleicht kommst du ja zu einer ganz wunderbaren Familie. Und so toll ist dieses Zeltlager hier schließlich auch nicht.«
Hannelore stieß ihre Hand weg, aber sie
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