Ein Buch für Hanna
in wallende Tücher gehüllt, führt ein kleines Mädchen über ein schmales Brett, das über einem reißenden Bach liegt, und aus dem Wasser ragen gefährliche Felsspitzen. »Guck nicht hin«, sagte Marie, wenn sie ihren Blick bemerkte, »das Bild ist kitschig, aber ich hänge daran.« Und Hanna dachte: Er passt zu ihr, der Engel. Er könnte ihr Bruder sein.
Als Schula sie bei einem der Gruppentreffen aufforderte zu berichten, wie ihre Gastfamilien seien und wie es ihnen in Kopenhagen gefalle, erzählte Hanna ganz begeistert von ihrer Arbeit. Auch die anderen berichteten von ihren Familien, von Schwierigkeiten, aber auch von Freuden, und alle außer Mira waren sich einig, dass das Essen in Kopenhagen wesentlich besser war als im Zeltlager und auch besser als in Ahrensdorf.
Und erst recht besser als in Leipzig, dachte Hanna, doch das behielt sie lieber für sich, sie wollte ihre Mutter nicht beschämen. Wenn sie an ihre Mutter dachte, geschah es immer mit schlechtem Gewissen. Alle paar Wochen bekam sie eine Karte, auf der stets das Gleiche stand. Die Mutter sei gesund, was sie von Hannelore auch hoffe. Und der letzte Satz lautete stets: »Sei brav, meine Tochter, Gott schütze dich.«
Hanna wusste nicht, ob sie über diese Karten weinen oder lachen sollte. Über Gott hatte die Mutter früher, zu Hause, nie gesprochen, aber Mira meinte, wenn die Leute älter würden, würden sie sich oft der Religion zuwenden. Hanna konnte es sich nicht vorstellen. Und was sollte das heißen: Sei brav, meine Tochter? Als ob sie je etwas anderes als brav gewesen wäre.
Doch wenn sie selbst an ihre Mutter schrieb, fiel ihr auch nichts anderes ein, als dass sie gesund sei, was sie auch von ihrer Mutter hoffe. Sie hätte ihr gern von Jesper und Marie erzählt, von der Werkstatt, aber der Gedanke, ihre Mutter könnte die Tatsache, dass es ihr gut ging, als versteckten Vorwurf empfinden, hielt sie davon ab. Außerdem war sie nicht daran gewöhnt, ungefragt etwas zu erzählen.
Hanna ging es wirklich gut. Sie war den Goldes sehr dankbar dafür, dass sie ihr dieses Glück ermöglichten. Wenn es in Deutschland keinen Krieg gegeben hätte, wenn sie nicht vor allem abends, vor dem Einschlafen, immer wieder ihre Mutter vor sich gesehen hätte, wie sie allein in der engen Küche saß, über ihre Nähmaschine gebeugt, wäre Hanna glücklich und zufrieden gewesen.
Mira
Sie hat mich erwischt, die Kleine, peng aufs Auge und mitten ins Herz, wie Joschka sagen würde. So hat sie mich erwischt. Und jetzt sitze ich da in dem Loch, das meine dänischen Sklaventreiber Zimmer nennen, und heule Rotz und Wasser und weiß nicht, wie ich mich wieder einkriegen soll.
Ich habe sie heute Abend besucht, wie ich es mindestens ein-, zweimal die Woche tue, weil ich es hier nicht aushalte und jede Gelegenheit nutze, um mal ein paar Stunden wegzukommen. Dabei gebe ich immer vor, ich müsste mich um Hanna kümmern, weil ich es damals, auf dem Leipziger Bahnhof, ihrer Mutter versprochen habe, und das sage ich auch zu meinen dänischen Sklaventreibern. Aber die Wahrheit ist eine ganz andere: Ich brauche Hanna, um nicht zu vergessen, wer ich bin. Vor lauter »tu dies« und »tu das« und »hast du schon« und »warum noch nicht« bin ich drauf und dran, mich zu verlieren. Und dabei bin ich nicht faul, wirklich nicht, im Gegensatz zu Joschka arbeite ich gern, es ist die Hetze und es ist der Ton. Oft tue ich so, als würde ich nicht verstehen, was sie wollen, nur um mal durchschnaufen zu können. Und natürlich, um sie zu ärgern.
Heute Abend hatte ich allerdings noch einen anderen Grund, Hanna zu besuchen, ich wollte ihr die Postkarte zeigen, die ich von meinen Eltern bekommen habe. »Joschka besucht Tante Ottilie in der Schweiz«, haben sie geschrieben. Ich war zuerst ganz verwirrt, wir haben keine Tante Ottilie, weder in der Schweiz noch anderswo, und dann habe ich es kapiert. Dieser Satz kann nur eine verschlüsselte Nachricht sein, nämlich die Mitteilung, dass es Joschka gelungen ist, in die Schweiz zu fliehen. Hanna hat die Karte lange betrachtet, bevor sie sie mir zurückgab, und dann hat sie gesagt: »Deine Eltern sind jetzt genauso allein wie meine Mutter.«
Wie üblich saßen wir in der Küche und Rasmine hat uns Eierkuchen mit Brombeermarmelade serviert, fette, süße Eierkuchen, so etwas Gutes habe ich schon lange nicht mehr gegessen. Meine Sklaventreiber sind nicht nur einfach im Geist, sondern auch einfach in der Lebensführung. Außer der Plackerei in
Weitere Kostenlose Bücher