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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Mama, dachte sie, ich kann nichts dafür, es passiert einfach, ohne dass ich es will.
    Ihre Tränen waren versiegt. Sie wischte sich mit dem Ärmel des Schlafanzugs, den ihr Frau Golde gegeben hatte, über die Augen, rutschte im Bett etwas höher, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ, vielleicht um sicherzugehen, dass sie nicht träumte, die Ereignisse der letzten beiden Tage an sich vorüberziehen.
    Am Jom Kippur * hatten sie gefastet, obwohl sie nicht religiös waren, im Gegenteil, aber bei der Abstimmung waren alle dafür gewesen. »Und wenn es nur aus Solidarität ist«, hatte Mira gesagt, »schließlich sind wir Juden.« Abends, als die ersten Sterne am Himmel anzeigten, dass der hohe Feiertag zu Ende war, hatten sie ein letztes Mal ein Lagerfeuer angezündet, Kartoffeln in der Glut gegart und dazu geräucherte Fische gegessen. Gesungen hatten sie nicht und gesprochen auch nicht viel. Nur einmal hatte Mira gesagt: »Schon wieder müssen wir Abschied nehmen. Eigentlich wollten wir nach Palästina fahren und dort für immer bleiben, und was ist jetzt? In weniger als einem Jahr der vierte Abschied. Erst von Leipzig, dann von Ahrensdorf, dann von Deutschland, von unseren Eltern und Geschwistern, und jetzt vom Zeltlager. Und wann kommt der nächste Abschied?«
    Stimmt, hatte Hannelore gedacht, und Bella hatte ihre Brille abgenommen, um sich die Tränen wegzuwischen.Schula hatte ihr tröstend den Arm um die Schulter gelegt und gesagt: »Ich hoffe sehr, dass wir für längere Zeit in Kopenhagen bleiben können.«
    Mira hatte höhnisch aufgelacht. »Du hoffst, du hoffst … Aber Hoffen und Wünschen sind für die Katz, die kannst du dir an den Hut stecken.«
    Und heute Morgen war der Bus gekommen, um sie nach Kopenhagen zu bringen. Während der Fahrt hatten die meisten still und in Gedanken versunken auf ihren Plätzen gesessen, nur Rachel und Bella auf der Bank vor ihr und Mira unterhielten sich flüsternd, doch was sie sagten, war nicht zu verstehen, dazu war das Brummen des Motors zu laut gewesen.
    Hanna erinnerte sich kaum an die Fahrt, nur ein paar Bilder tauchten vor ihr auf und huschten vorbei, Dörfer mit kleinen, bunten Häusern, eine Windmühle, deren Flügel sich langsam drehten, Bauern, die auf ihren Feldern arbeiteten. Und sie wusste noch, dass Mira neben ihr gesagt hatte: »Sie machen Kartoffeln aus. Und wer erntet jetzt in Ahrensdorf die Kartoffeln, die wir im Frühjahr gesteckt haben?« Das war alles. Sollte sonst noch etwas gesagt worden sein, so war es an ihr vorbeigeflogen, ohne eine Erinnerung zu hinterlassen.
    Auch die Bilder der Landschaft waren an ihr vorbeigeflogen. Als sie durch ein Dorf kamen, sahen sie vor der Kirche ein Hochzeitspaar, umringt von festlich gekleideten Gästen. Dahinter standen Musikanten, ein Geiger, ein Mann mit einer Trompete und einer mit einer Trommel, und Hanna erinnerte sich plötzlich an eine Hochzeitsfeier im Naundörfchen * hinter der Feuerwache, zu der sie und ihre Mutter eingeladen worden waren, vor zwei Jahren, oder waren es drei? Die Mutter der Braut stammte aus Polen, aus demselben schtetl wie ihre Mutter und Tante Hetty. Bei dieser Hochzeit hatte Hanna ihre Mutter ganz anders erlebt, sie hatte Wein getrunken, sie hatte gelacht, sie hatte mit anderen Frauen jiddische Lieder gesungen und getanzt. Und da, auf der Fahrt vom Zeltlager nach Kopenhagen, hatte Hanna sich erstaunt gefragt, warum sie dieses Hochzeitsfest und diese ausgelassene Mutter vergessen hatte, warum sie sie immer nur als traurige Frau vor sich sah.
    Kopenhagen war groß, bestimmt so groß wie Leipzig, und auch hier gab es hohe Häuser. Doch deren Fassaden waren nicht grau, sondern bunt verputzt und sahen deshalb heller und freundlicher aus. Immer wieder fuhren sie über Brücken und an Flüssen oder Kanälen vorbei, in Kopenhagen gab es offenbar viel Wasser. Auf den Straßen fuhren Autos, Busse und Straßenbahnen, dazwischen aber auch Pferdewagen, beladen mit Kartoffeln und Gemüse. Bauern, die ihre Feldfrüchte in die Stadt brachten. Und Fahrräder, viele Fahrräder.
    Der Bus hielt vor einem Haus der jüdischen Gemeinde. Als sie ausstiegen, fiel Hannelore auf, wie anders sich hier die Luft anfühlte, viel weicher und feuchter, ähnlich der Luft, die sie von der Überfahrt mit der Fähre kannte. Das Meer musste ganz in der Nähe sein. Sie betraten einen großen Raum, in dem sie von etlichen Frauen erwartet wurden. In der Mitte des Zimmers, an dessen Wänden Fotos von Menschen in

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