Ein Buch für Hanna
Ohrläppchen zupft, wenn sie nachdenkt, und ich weiß, wie hübsch sie plötzlich aussieht, wenn sie lacht. Und das alles werde ich nicht mehr sehen, dieses Wissen ist sinnlos geworden. Am liebsten hätte sie geweint, aber ihre Augen blieben trocken. Es war, als hätte der Schreck alle Flüssigkeit aus ihrem Körper gesaugt. Bella war es, die weinte, sie weinte so leicht, und auch Estherke hatte Tränen in den Augen.
»Ich werde mit meinem Mann in Odense leben«, sagte Schula, »und euch deshalb nicht mehr oft sehen können. Ihr bekommt einen neuen Madrich, er heißt Efraim und ist Däne. Er ist ein sehr netter junger Mann, der zwar kaum Deutsch spricht, dafür aber ausgezeichnet Hebräisch. Außerdem hat Inger versprochen, sich mehr um euch zu kümmern. Es wird also alles so weitergehen wie bisher, ihr behaltet euer Zentrum. Und ich bin nicht aus der Welt, ich kann notfalls herkommen, wenn irgendetwas passiert.«
Erst abends, im Bett, als Bentes rasselnder Atem bewies, dass sie eingeschlafen war, konnte Hanna weinen.
Es stellte sich heraus, dass Efraim wirklich ein netter junger Mann war, wie Schula gesagt hatte, groß und kräftig und mit braunen Locken. Er war freundlich und gesellig, sang gern und lachte viel schneller und lauter als Schula. Er sei fast so schön wie Joschka, flüsterten sich die Mädchen hinter seinem Rücken zu, und Hanna dachte an eine Stelle in ihrem Buch: Oh, wie schön war der junge Prinz, der fröhlich lachend allen Menschen die Hand drückte, während die Musik in die herrliche Nacht hinausklang.
Hanna ertappte sich dabei, dass sie immer öfter an Efraim dachte, auch während der Woche, tagsüber bei der Arbeit und abends vor dem Einschlafen, und sie spürte, wie ihr die Hitze in den Kopf stieg. Diese Gedanken weckten Gefühle in ihr, die sie verwirrten. Manchmal träumte sie davon, er würde sie in den Arm nehmen, sie stellte sich vor, wie sie den Kopf an seine Brust legen und durch das Hemd hindurch die Wärme seines Körpers spüren würde, und er würde nach Seife und Schweiß riechen und ein bisschen nach Schokolade. Bei den Gruppentreffen wurde sie immer stiller und wagte kaum, ihn anzuschauen, weil sie fürchtete, jemand, vielleicht sogar er selbst, könne ihr ansehen, was sie empfand.
Der schöne Efraim war schuld an der dritten großen Enttäuschung dieses Jahres. Das war im Herbst, als Hanna bemerkte, dass sich zwischen ihm und Mira etwas angebahnt hatte. Immer öfter musste sie nach den Gruppentreffen allein nach Hause radeln, weil Mira noch bei Efraim bleiben wollte, und sie besuchte Hanna auch seltener als früher, manchmal nur alle zwei, drei Wochen. Hanna war tief getroffen, und wenn sie Mira sah, musste sie sich zusammenreißen, um nicht wie ein trotziges, gekränktes Kind auf die Freundin loszugehen und ihr Vorwürfe zu machen. Dabei wusste sie nicht, welche Enttäuschung schwerer wog, die Enttäuschung darüber, dass Mira sich nicht mehr so fürsorglich um sie kümmerte, wie sie es gewohnt war, oder die, dass Efraim in ihr nur das armselige, mickrige Kind sah und in Mira die Frau.
Erst als sie eines Abends im Bett für Bente das Märchen von der kleinen Meernixe übersetzte und Bente über die traurige Liebe der jüngsten Tochter des Meerkönigs Tränen vergoss, konnte Hanna ebenfalls weinen und den beiden viel Glück wünschen. Schließlich war Mira zwanzig, im heiratsfähigen Alter, wie es in den Märchen hieß, und sie erst siebzehn. Doch diese Einsicht reichte nicht, die Traurigkeit aus ihrem Herzen zu vertreiben, und dabei stand ihr der lange Winter erst noch bevor. Auch die anderen Mädchen waren still geworden. Alle bis auf Mira. Mira strahlte, Mira war glücklich, Mira lachte. Obwohl es eigentlich nichts zu lachen gab.
Efraim war viel interessierter an Politik, als Schula es gewesen war, das merkten die Mädchen bald. Er hörte regelmäßig die Nachrichten der BBC, obwohl das natürlich verboten war, und er verheimlichte den Mädchen auch nicht, was er erfahren hatte. Zum Beispiel berichtete er von den Deportationen der Juden aus Deutschland und den besetzten Gebieten in den Osten, in sogenannte Konzentrationslager. Es machte ihnen Angst, auch wenn sie nicht wussten, was das bedeutete. »Die Deutschen behaupten, es handle sich um Arbeitslager«, sagte Efraim. »Aber wir wissen ja, dass man ihnen nichts glauben kann.«
Abends, im Bett, fragte sich Hanna bedrückt, wie ihre schwache und kränkliche Mutter es aushalten würde, wenn man sie in ein
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