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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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alle hätten ihn ermutigt, es doch zu versuchen, obwohl er mit seinen fünfundvierzig Jahren nicht mehr der Jüngste sei.
    Das bin ich auch nicht mehr, ich werde bald achtundzwanzig. Meine Mutter hatte mit achtundzwanzig schon zwei Kinder, mich und meine Schwester Ada, und wenn mein Vater nicht zwischen 1914 und 1918 Soldat gewesen wäre, hätte sie bestimmt noch mehr Kinder gehabt. Ada ist mit acht Jahren an einem geplatzten Blinddarm gestorben und meine Mutter hat ihren Tod nie verwunden. Ich war damals ja schon vierzehn und so mit mir selbst beschäftigt, dass ich erst Monate, vielleicht sogar Jahre später angefangen habe, um sie zu trauern. Sie war ein so schönes, gutes Kind und hat mir in meiner Jugend sehr gefehlt. Nicht dass ich meine Brüder nicht geliebt hätte, aber Brüder sind kein Ersatz für eine Schwester.
    Ich hatte mich eigentlich damit abgefunden, allein zu bleiben. Meine Kinder sind die Mädchen meiner Gruppe, habe ich gedacht und mir oft vorgestellt, später mit ihnen zusammen in Palästina zu leben, in einem Kibbuz. Ich würde, habe ich gedacht, für ihre Söhne und Töchter die gute Tante sein oder eine Art Ersatzoma, und das würde mich darüber hinwegtrösten, keine eigenen Kinder zu haben.
    Die Sehnsucht nach dem Land unserer Väter beherrscht mich schon seit vielen Jahren. Ohne meine Mutter wäre ich längst dort, aber nach Adas Tod war an eine Auswanderung nicht zu denken. Sie fing schon an zu weinen, wenn ich das Wort Palästina überhaupt in den Mund nahm. »Tu mir das nicht an«, sagte sie immer, »ich könnte es nicht ertragen, noch ein Kind zu verlieren, das wäre mein Tod.« Davon, dass es sich nur um einen räumlichen Abstand handeln würde, wollte sie nichts hören.
    Ich war eine gute Tochter, ich blieb.
    Aber ich habe angefangen, neben meinem Beruf als Krankenschwester auch als Madricha zu arbeiten. Die Betreuung von Kindern und Jugendlichen hat mich so fasziniert, dass sie mir bald wichtiger wurde als die Pflege von Kranken. In Amsterdam habe ich damit weitergemacht, und als man mich fragte, ob ich bereit sei, eine Mädchengruppe aus Deutschland nach Dänemark zu begleiten, habe ich sofort Ja gesagt und diesen Entschluss bis heute nicht bereut.
    Ich liebe meine Mädchen, vor allem Hanna ist mir ans Herz gewachsen. Ich weiß noch, wie erschrocken ich war, als ich sie das erste Mal sah, damals in Kiel, vor der Fähre. Mit so einem dünnen, verschüchterten Kind hatte ich noch nie zu tun gehabt. Wie sie aussah mit den struppigen, dunklen Haaren und der weißen Haut. Und diese Augen! Ich weiß noch, dass ich dachte: ein Kind mit Augen wie ein waidwundes Reh.
    Heute sieht sie ganz anders aus, sie ist gewachsen und hat zugenommen, niemand erschrickt mehr bei ihrem Anblick. Dänemark ist ein Glück für sie gewesen, sie hat sich herausgemacht, aus dem hässlichen Entlein wird langsam ein Schwan, ein schwarzer Schwan. Aber sie ist noch immer seltsam anspruchslos, sie beklagt sich nie und scheint alles hinzunehmen, als hätte sie keinen eigenen Willen. Aber das stimmt nicht. Hanna sagt zwar nicht viel, aber wenn man sie beobachtet, sieht man an kleinen Regungen ihres Gesichts, wie empfindsam sie ist. Ganz anders als ihre Freundin Mira, die mir manchmal ganz schön auf die Nerven geht.
    Hanna ist auch der Grund dafür, dass ich den Mädchen nichts von dem erzählt habe, was ich von Friedrich weiß, nichts von den Judenhäusern. Vor allem Hanna wollte ich diese zusätzliche Sorge ersparen. Vor ein paar Wochen stand Friedrich plötzlich vor dem Krankenhaus, in dem ich arbeite. Er habe den Auftrag, eine Reportage über Dänemark zu schreiben, sagte er, und da habe er gedacht, es sei doch ganz schön, mich nach über drei Jahren wieder einmal zu treffen. Ich habe keine Ahnung, woher er wusste, wo ich arbeite, und wer ihm überhaupt gesagt hatte, dass ich in Dänemark bin. Als ich ihn danach fragte, zuckte er nur mit den Schultern, grinste so lausbübisch wie früher und sagte: »Beziehungen.«
    Wir haben einen netten Abend miteinander verbracht. Er hat mir erzählt, dass er für verschiedene österreichische und deutsche Zeitungen arbeitet und deshalb vor einiger Zeit auch in Leipzig gewesen ist. Ich bekam sofort große Ohren, schließlich stammen drei meiner Mädchen aus Leipzig, Hanna, Mira und Rachel. Deshalb habe ich mich nach der Situation der dortigen Juden erkundigt. Er sagte, er habe in Leipzig zum ersten Mal Judenhäuser gesehen, die man überall im Reich eingerichtet habe, in

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