Ein Buch für Hanna
Leipzig müssten es an die zwanzig sein. »Die Juden werden gezwungen, in diese Häuser zu ziehen«, sagte er, »und sie leben dort zusammengepfercht und unter unbeschreiblichen Bedingungen, ganze Familien in einem Raum, kaum was zu essen und keine Möglichkeit zu entkommen.«
Ich fragte ihn nach Miras und Rachels Eltern und natürlich nach Hannas Mutter, doch nur der Name Doktor Goldberg kam ihm bekannt vor, Genaueres wusste er nicht. »Bestimmt sind sie ebenfalls in Judenhäusern«, sagte er, »für die Nazis sind sie alle gleich, egal ob einer ein Taschendieb ist oder ein Professor. Jude ist Jude.«
Ich hätte ihn gern gefragt, ob er inzwischen auch Nazi geworden sei, habe mich aber nicht getraut, ich hatte Angst vor der Antwort. Außerdem glaube ich nicht, dass Friedrich ein Nazi ist, ich kenne ihn doch seit dem Kindergarten, ich kenne seine Eltern und seine Schwestern, sogar seinen Großvater aus Linz und seine Tante Josefine aus Graz. Bis wir 1938 nach Holland ausgewandert sind, haben wir in Wien im gleichen Haus gewohnt, im 2. Bezirk, seine Familie im dritten Stock und wir im vierten.
Ich habe meinen Mädchen die Judenhäuser verschwiegen, so wie ich ihnen die Gerüchte verschweige, dass im Osten massenhaft Juden ermordet werden. Ich glaube diesen Gerüchten nicht, ich kann und will sie nicht glauben. Und ich will meinen Mädchen das Herz nicht unnötig schwer machen. Sie sind noch so jung. Wenn ich sehe, wie sie lachen und singen und Pläne machen, denke ich manchmal, sie sind viel jünger, als ich es je war. Natürlich haben sie Angst um ihre Eltern und Geschwister, so wie ich Angst um meine Eltern und um meine Brüder habe. Sie wissen von den Bombardierungen deutscher Städte, sie wissen, dass die Nazis Arbeitslager für Juden eingerichtet haben und dass vor allem im Osten Juden dazu gezwungen werden, in Ghettos zu leben. Aber sie wissen es nur theoretisch, ich glaube nicht, dass sie es sich wirklich vorstellen können.
Auch wenn ich jetzt vielleicht hier in Dänemark bleibe, wünsche ich mir für sie einen jüdischen Staat, eine wahre Heimstatt, das ersehnte Altneuland, von dem Theodor Herzl gesprochen hat. Ich bin überzeugt, dass sie dieses Land brauchen werden, denn viele von ihnen werden ihre Eltern vielleicht nie wiedersehen, zumindest werden sie das Zuhause, das sie kannten, wohl verloren haben.
Ich mache mir Sorgen um Hanna, Sorgen, ob sie das wirklich alles verkraftet, und es beruhigt mich, dass Mira sich um sie kümmern wird. Um Mira braucht man sich keine Gedanken zu machen, sie ist stark in ihrer Aufsässigkeit. Ich komme nicht gut mit ihr zurecht, aber sie imponiert mir. Und ich bin ihr dankbar dafür, dass sie ausgerechnet Hanna unter ihre Fittiche genommen hat, auch wenn ich es nicht verstehe. Ich glaube, das versteht keiner. Allerdings ist die Treue, mit der sie diese Aufgabe erfüllt, absolut bewundernswert, eine Treue, die mich immer wieder überrascht, weil ich sie ihr nie zugetraut hätte.
Jetzt bin ich froh und dankbar dafür, es gibt mir die Möglichkeit, mich ohne schlechtes Gewissen für mich selbst zu entscheiden, für ein eigenes Leben, und Mira die Verantwortung für Hanna zu überlassen. Ich werde Kobis Antrag annehmen, er ist ein anständiger Mann, a mentsch, wie meine Mutter sagen würde. Ich werde Kobi heiraten. Er sieht zwar nicht so aus, wie sich ein junges Mädchen einen Ehemann erträumt, dazu ist er zu klein, zu dick, zu unansehnlich und außerdem hat er eine Glatze. Aber wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass auch ich nicht so aussehe, wie sich ein junger Mann seine Ehefrau erträumt.
Dennoch glaube ich nicht, dass es unsere körperlichen Unzulänglichkeiten sind, die uns zueinandertreiben, sondern eher das Verständnis des einen für den anderen. Wir wissen beide, wie es ist, wenn man nicht schön ist, wenn man nicht so aussieht, dass man gleich von allen bewundert wird. Wir wissen beide, wie man sich fühlt, wenn immer die anderen umschwärmt werden und man selbst abseitssteht und zuschaut. Kobi hat recht, in solchen Zeiten ist es nicht gut, dass der Mensch allein sei.
Achtes Kapitel
H anna beobachtete beim Gruppentreffen erstaunt, wie euphorisch die anderen darauf reagierten, dass die Amerikaner in den Krieg eingetreten waren. »Endlich!«, sagte Rebekka. »Nur weil die Japaner die amerikanische Flotte in Pearl Harbor bombardiert haben.«
»Wo ist das eigentlich, dieses Pearl Harbor?«, fragte Rosa.
»Das ist ein amerikanischer Flottenstützpunkt auf
Weitere Kostenlose Bücher