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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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ich noch deutlich vor mir, Joschka.
    Ich würde so gern an eine liebevolle Familie zurückdenken, voller Sehnsucht, mit Tränen in den Augen, ich stelle mir vor, wie tröstlich das wäre. Aber es geht nicht. In diesem Fall kann ich nicht so tun, als ob, mir selbst gegenüber klappt das nicht. Mir tun unsere Eltern leid, Joschka, sie haben das Als-ob nie überwunden. Oder vielleicht doch, als ihnen nichts anderes mehr übrig blieb? Könnte sein. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich ihnen das wünschen sollte, ich stelle es mir verdammt schmerzhaft vor, eigenes Versagen erst dann zu erkennen, wenn man es nicht mehr korrigieren kann.
    Hanna hat Doktor Bornstein getroffen, unseren Kinderarzt in Leipzig, erinnerst du dich? Der Zwerg mit dem großen Kopf, Kürbiskopf, hast du immer gesagt. Er hatte seine Praxis in der Gottschedstraße, nicht weit von der Synagoge. Doktor Bornstein war auch in Theresienstadt, aber er ist mit einem Transport in den Osten geschickt worden, nach Polen, wie die meisten hier. Hanna hat ihn getroffen und gefragt, ob er etwas von ihrer Mutter wisse, und er hat gesagt, Frau Salomon sei mit ihrer Kusine an einen unbekannten Ort umgesiedelt worden. Tut mir leid, Kind, hat er gesagt. Hanna hat nicht geweint, als sie es mir erzählt hat. Unseren Eltern wird es wohl ähnlich ergangen sein, und wo du bist, Joschka, weiß ich nicht. Erst warst du in der Schweiz, dann in Spanien. Und wo bist du jetzt? Aber ich zähle auf dich, Joschka.
    Ich hätte dich so gerne wiedergesehen, mein Bruder. Schade. Ich hoffe, dass wenigstens du überlebst. Vergiss mich nicht, ich will nicht vergessen werden. Und wenn du mal Kinder hast, erzähl ihnen von deiner Schwester. Sag ihnen, dass wir uns zwar oft gestritten haben, aber eigentlich haben wir uns doch geliebt, nicht wahr?

Fünfzehntes Kapitel
    S ie ist tot«, sagte die Pflegerin.
    Hanna starrte die Frau an, sie sah das Gesicht mit den rot entzündeten Augen, sie sah die Lippen, die sich beim Sprechen über dem vorstehenden Pferdegebiss hochzogen und die bräunlich verfärbten Zahnhälse freilegten, die Zahnlücken im Oberkiefer.
    Wie hässlich sie ist, dachte Hanna. War dieses Gesicht das Letzte gewesen, was Mira gesehen hatte, bevor sie für immer die Augen schloss? Wäre der Tod weniger schlimm gewesen, wenn sie etwas Schönes gesehen hätte? Sie konnte den Blick nicht von diesem Gesicht wenden. »Sie ist letzte Nacht gestorben«, sagte die Frau und wandte den Kopf ab. »Tut mir leid.«
    Letzte Nacht, dachte Hanna. Während ich schlief, ist Mira gestorben. Ich bin aufgewacht und habe nicht einmal gewusst, dass Mira tot ist. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, als wäre nicht von gestern auf heute die Welt untergegangen. Miras Welt. Hanna wusste, dass sie jetzt Trauer empfinden müsste, aber das Gefühl wollte sich nicht einstellen. Alles, was sie spürte, war nur eine seltsame Leere, als wäre sie innerlich ausgehöhlt. Und Zorn. Zorn darüber, dass ihr etwas weggenommen worden war. Wie damals die Puppenstube. Seit vielen Jahren hatte sie nicht mehr an die Puppenstube gedacht, und damals hatte sie geglaubt, ein Leben ohne sie wäre undenkbar, wäre nur noch eine Kette trauriger Tage. Es ist nicht richtig, dass ich jetzt an ein Spielzeug denke, dachte sie, ich muss mich zusammenreißen. Etwas Unwiderrufliches ist passiert und ich denke an eine Puppenstube! Sie spürte, wie Rachel mit ihrer gesunden Hand nach ihrem Arm tastete, und sie hörte hinter sich Bella weinen, laut und ungezügelt, wie ein Kind weint. Auf einmal wusste sie wieder, wo sie war, in der Hölle, im Vorzimmer zur Hölle. Das ist doch alles nicht wahr, dachte sie, das muss ein Irrtum sein. Die Pflegerin hat Mira verwechselt, natürlich, es sind ja so viele Kranke, da kann das leicht passieren, vor allem, wenn man so erschöpft und übermüdet ist wie diese Frau.
    »Ich möchte sie sehen«, sagte Hanna zur Pflegerin. »Bitte, ich möchte sie noch einmal sehen.«
    Die Frau zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf. »Zu spät, die Leiche ist schon im Krematorium.«
    Die Leiche. Dieser Körper, der einmal so schön und üppig gewesen war, so kräftig, so unzerstörbar, dachte Hanna. Während ich überlegt habe, wo ich ein paar Kohlen auftreiben könnte, ist Mira verbrannt worden. Wie konnte es bloß so weit kommen? Und alles, was sie empfand, war Zorn.
    Sie drehte sich um und lief langsam zur Kaserne zurück. Rachel, Bella und Rosa folgten ihr. Der Schnee, der vor vier Tagen, als sie Mira ins

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