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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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werde nicht als Jungfrau sterben, aber darüber freuen kann ich mich nicht. Es war nicht die Liebe, wie ich sie mir immer erträumt hatte. Er hieß Efraim und war schön, für mich zu schön, um ihn wirklich lieben zu können. Wenn jemand diesen widersprüchlichen Satz verstehen kann, bist du es, Joschka. Dass ich so einfach aufgehört habe, an ihn zu denken, bewies mir jedenfalls, dass es keine Liebe gewesen sein konnte, vermutlich war es nichts anderes als eine gute Gelegenheit und eine gewisse Leichtfertigkeit, schließlich bin ich die Tochter unseres Vaters, du bist mein Bruder, dir brauche ich nicht zu erklären, was ich meine. Wenn ich mich an Efraim erinnere, empfinde ich höchstens Bedauern darüber, dass es im Grunde belanglos war, nichts Großartiges, nichts Erhabenes, nichts Einzigartiges. Ein Spiel, mehr nicht.
    Eigentlich müsste ich jetzt Zorn und Wut empfinden, den Drang, mich an denen zu rächen, die mir das alles angetan haben. Aber ich kann es nicht, ich bin zu müde, zu schwach. Der Aufwand, den so heftige Gefühle wie Zorn und Wut erfordern, ist mir zu groß, das bisschen Kraft, das ich noch habe, brauche ich für mich selbst.
    Sei nicht traurig, Joschka, die, die hier liegt, ist nicht deine Schwester, sie ist eine andere. Gut, sie heißt auch Mira, aber schau sie dir doch an, sie hat nichts mit der Mira gemein, die du kennst. Weißt du noch, dass du immer gesagt hast, ich sei so mürrisch? Womit habe ich eine so mürrische Schwester bloß verdient, hast du gesagt, andere Mädchen, denen es vielleicht schlechter geht als dir, sind trotzdem fröhlich und unbeschwert.
    Mürrisch? War ich wirklich mürrisch? Vielleicht war ich ja nur traurig, weil ich nicht das sein konnte, was ich eigentlich sein wolltenämlich ein Kind, das von allen geliebt und bewundert wird. Das habe ich nie geschafft, Joschka; selbst wenn ich mich bemüht habe, fröhlich und unbeschwert zu sein, ist es mir nicht gelungen, ich konnte immer nur so tun, als ob. Auserwählt, Joschka, auserwählt! Ich hätte lieber zum unauffälligen, so gar nicht besonderen Teil der Menschen gehört, schon früher, zu Hause. Ich habe alle Kinder beneidet, die keine auffallend gut aussehenden Eltern hatten, deren Eltern weniger wohlhabend waren oder zumindest ihre Wohlhabenheit nicht so zur Schau gestellt haben. Ich kann dir auch sagen, warum: Ich wollte nie so tun, als ob, ich habe das Verstellen gehasst. Und dabei ist es das Einzige, was ich gelernt habe. Was ich wirklich verdammt gut kann. Mein Leben spielt sich auf einer Bühne ab. Sogar hier, in Theresienstadt. Ich tue, als wüsste ich, was notwendig ist und wie man sich verhalten sollte, um an diesem gottverlassenen Ort zu überleben. Ich tue, als ob ich stark wäre, als ob mir das alles nicht viel ausmacht. Als ob ich wüsste, was das Beste für uns ist. Und sie verlassen sich auf mich, Hanna, Rachel, Bella und Rosa.
    Ich bin für sie so etwas wie eine große Schwester, und auch das ist nur eine Rolle, denn ich bin nie eine große Schwester gewesen. Ich hatte nur einen großen Bruder, den ich, jetzt kann ich es ruhig zugeben, insgeheim angebetet habe. Was ist, Joschka, hast du das nicht gewusst? Ich versuche, mich den anderen gegenüber so zu verhalten, wie du es getan hättest, ich bin, könnte man sagen, zur Madricha geworden, ohne je einen Kurs mitgemacht zu haben. Nur dass ich hier nicht darauf achte, dass die Mädchen Hebräisch lernen und etwas über die Geschichte des Zionismus erfahren, sondern darauf, dass sie pünktlich zur Arbeit gehen, dass sie sich waschen und den Kampf gegen das Ungeziefer nicht aufgeben. Das ist gar nicht so einfach, immer wieder einzelne Wanzen zu zerdrücken, wenn man das Gefühl hat, dass bereits ganze Heerscharen weiterer Wanzen auf der Lauer liegen. Es kommt einem so sinnlos vor und trotzdem muss man es machen.
    Und statt den Mädchen von neuen jüdischen Siedlungen in Palästina zu erzählen, bringe ich ihnen bei, durch welche Tricks man sich einen kleinen Vorteil verschaffen könnte, wie man die einfachsten Regeln der Hygiene beachtet und zu welchen Personen man besonders freundlich sein muss. Und vor allem, dass man nicht alles Essbare, das man ergattert, sofort verschlingt, sondern dass es wichtig ist, zu teilen und einzuteilen. Nur wenn man sich gegenseitig hilft, kann man auch selbst auf Hilfe hoffen. Solidarität, Joschka, das habe ich von dir gelernt und ich gebe dieses Wissen dankbar weiter. Vor allem Hanna scheint es verstanden zu haben.
    Hanna,

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