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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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das Püppchen, weißt du noch? Du kennst sie von Ahrensdorf. Diese kleine Dünne, die immer ausgesehen hat, als würde sie sofort umfallen, wenn man sie nur ein bisschen anpustet. Du würdest sie nicht wiedererkennen. Dünn ist sie immer noch, oder besser gesagt, dünn ist sie hier wieder geworden, wie wir anderen auch, aber sie fällt nicht mehr um, noch nicht mal, wenn es stürmt. Dabei ist sie immer sie selbst. Es hat lange gedauert, bis ich gemerkt habe, dass sie immer sie selbst bleibt, dass sie nie eine andere Rolle spielt, dass sie nie so tut, als ob. Das ist es, wofür ich sie bewundere. Und beneide.
    Ihr seid die Glücklichen, die Auserwählten. Das hast du gesagt, Joschka, es war das Letzte, was ich von dir gehört habe. Was hast du eigentlich damit gemeint? Dass wir zum auserwählten Volk gehören? Wozu waren wir auserwählt? Dazu, um in Theresienstadt zu landen? Um zu lernen, was Hunger bedeutet, wie sich Hunger anfühlt? Um zu erfahren, dass ein leerer Magen zwangsläufig zu einem leeren Kopf führt, zu einem leeren Herzen? Auserwählt, um den Wert des Lebens zu erkennen, des puren, nackten Überlebens? Ist es das, was du gemeint hast? Gut, wir haben es gelernt, wir wissen, was Hunger und Erniedrigung bedeuten. Wir wissen jetzt, was es heißt, ums Überleben zu kämpfen. Aber die Reihenfolge war falsch, Joschka. Wir hätten es zuerst lernen müssen, gleich am Anfang, um zu erkennen, was eigentlich wichtig ist, und um andere Formen des Lebens schätzen zu können. Ich sage dir, selbst das Leben bei meinen Sklaventreibern in Kopenhagen war die reinste Sommerfrische im Vergleich mit dem Leben hier. Aber was nützt mir diese Erkenntnis jetzt? Zu spät, Joschka, zu spät. Es ist auch sinnlos zu fragen, wie ich jetzt, nach allem, was ich weiß, unser Leben in Leipzig beurteilen würde.
    Ein Bild fällt mir immer wieder ein. Die Geschichte ist lange her, wie lange, habe ich vergessen, aber ich kann höchstens sechs, sieben Jahre alt gewesen sein, jedenfalls zu klein, um an den Spiegel im Badezimmer zu reichen. Es ist Purim*, wir sind zu einem Purim-Ball eingeladen. Mama hat mir ein Kostüm machen lassen, damit ich mich als Königin Esther verkleiden kann, ein himmelblaues Kleid mit langem Rock und aufgenähten goldenen Litzen und goldenen Rüschen, dazu eine winzige goldene Krone. Sie hat meine Haare zu Locken gedreht und mich geschminkt, die Lippen, die Augen, die Wangen. Erinnerst du dich, Joschka? Du hast gesagt, noch nie hatte ein Junge eine so hübsche Schwester, das hast du gesagt. Mich macht das stolz, ich freue mich auf die Gesichter der anderen Mädchen, auf den Neid in ihren Augen. Ich hüpfe vor dem Badezimmerspiegel immer wieder hoch, um mich zu sehen. Du willst mir einen Gefallen tun, nimmst den Spiegel aus der Halterung und hältst ihn vor deinen Bauch, damit ich mich besser betrachten kann. Ich bin glücklich. In diesem Moment geht die Tür auf, sie trifft dich im Rücken und du lässt vor Schreck den Spiegel fallen. Es gibt einen ohrenbetäubenden Krach, das Glas zerspringt in tausend Stücke. Es ist unser Vater, der hereinkommt, und er ist so wütend, dass er dir eine Ohrfeige gibt.
    Ich sehe noch sein zorniges Gesicht, sehe, wie du dir die Hand an die Wange hältst und hinausrennst, in dein Zimmer. Deine Tür knallt zu. Da kommt unsere Mutter und schreit unseren Vater an, warum er dich geschlagen hat, und auf einmal streiten sie wieder, wie sie immer gestritten haben. Sie schreien im Wohnzimmer, du bist hinter deiner verschlossenen Tür und ich stehe allein im Badezimmer, eine traurige, verlassene Königin. Ich knie mich auf den Boden, betrachte mein zerbrochenes Gesicht in den Scherben, da die Augen und den Mund, dort die dunklen Locken, drei Zacken der Krone, meinen Hals mit einem himmelblauen Ausschnitt. Ich bin verzweifelt, fühle mich selbst so zerbrochen wie mein Spiegelbild, ich weine und sehe auf einmal das Blut an meiner Hand, ich habe mich an einem Scherbenstück geschnitten. Und dann bist du es, der mich hochzieht, der mir unter dem Wasserhahn das Blut abwäscht und mir einen dicken Verband um die Hand wickelt, bestimmt viel zu dick, so groß kann die Wunde nicht gewesen sein, ich habe jedenfalls keine Narbe behalten. Unsere Eltern haben einander angeschrien und du hast dich um mich gekümmert. Du, mein großer Bruder. Ich weiß nicht mehr, ob wir am Schluss zu diesem Purim-Ball gegangen sind, vermutlich nicht, aber die Szene im Badezimmer sehe ich noch deutlich vor mir, dich sehe

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