Ein Buch für Hanna
Märchen zu trösten. Immer wieder tauchten Sätze in ihrem Kopf auf, herausgerissene, zusammenhanglose Sätze, und raschelten durch ihre Gedanken wie vertrocknete Blätter, die der Wind im Herbst von den Bäumen reißt. Der Tod ist der allerbeste Sandmann, erklärte Hilmar. Vor ihm fürchte ich mich nicht. Und Hanna dachte, dass Mira dem Tod ganz bestimmt ein gutes Zeugnis hatte zeigen können.
Ein andermal sah sie die drei Schwestern vor sich, wie sie Hand in Hand im hellen Mondschein um den stillen See tanzten . Das Gewand der einen war rot, das der zweiten war blau und das der dritten war weiß. Es duftete wunderbar süß. Die Mädchen verschwanden im Wald und der süße Blumenduft wurde immer stärker. Drei Särge, in denen die schönen Mädchen lagen, glitten aus dem Dickicht des Waldes heraus und über den See hin. Schlafen die Mädchen oder sind sie tot? Der Blumenduft sagt, sie sind tot, und die Abendglocke schickt ihnen ihre frommen Klänge nach. Mira lachte höhnisch auf. Was für ein Quatsch, sagte sie, Theresienstadt ist kein Ort für Märchen, hier haben Märchen ihren Sinn verloren. Und Hanna dachte: Sie hat recht. Hier verkommen Märchen zu dürren Worten, die an kein Gefühl mehr rühren. Theresienstadt erlaubt einem nicht, in Träume zu fliehen, hier gibt es keinen Trost. Verzweifelt erinnerte sie sich an das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern, an den Satz, der Bente damals zu Tränen gerührt hatte. Sie flogen zusammen hoch, hoch empor. Da gab es keine Kälte, keinen Hunger und keine Furcht mehr, denn sie waren bei Gott. Das wäre vielleicht ein Trost, wenn man an Gott glauben könnte, dachte Hanna. Möglicherweise war es ja damals, als Hans Christian Andersen seine Märchen schrieb, noch leicht, an Gott zu glauben, schließlich gab es damals noch kein Theresienstadt.
Sie war stumm, gefangen in einem Vakuum, nahm alles, was um sie herum geschah, wie durch eine Glaswand wahr. Auch Rachel, Bella und Rosa sprachen nicht, weder mit Hanna noch untereinander, sie wichen sich aus, schauten aneinander vorbei. Sarah kam weiterhin jeden Abend zu ihnen herauf, blieb schweigend und mit ernstem Gesicht vor den Pritschen stehen und ging nach einer Weile wieder. Als wolle sie nur zeigen, dass sie da war und wartete.
So geht es nicht weiter, sagte Mira eines Abends, du musst etwas unternehmen. Da rief Hanna ihre Freundinnen auf Rachels Pritsche zusammen und gab jeder aus Miras Versteck einen Zwieback und ein Stück Hartwurst. »Hier«, sagte sie mit einer Stimme, die knirschend und wie eingerostet aus ihrer Kehle kam. »So geht es nicht weiter, merkt euch das, jetzt ist Schluss. Aufgeben gilt nicht.«
Die Freundinnen starrten sie mit großen Augen an und Rachel rückte etwas näher zu ihr. Ab da sprachen sie wieder miteinander. Sie sprachen zögernd, langsam, als müssten sie sich jedes Wort überlegen, und vermieden es sorgsam, Miras Namen zu erwähnen. Nur einmal sagte Rachel: »Ich muss immer daran denken, was Mira über Abschiede gesagt hat, damals, als wir das Zeltlager verlassen mussten. Wisst ihr es noch?«
Hanna sah Mira vor sich, jung, kräftig, schön, wie sie mit einem grimmigen Gesicht gesagt hatte: »Immer müssen wir Abschied nehmen, das ist der vierte Abschied in einem Jahr.« Sie legte den Arm um Rachel, ihre Hand umfasste die verkrüppelte Schulter. »Jetzt muss sie nie mehr Abschied nehmen«, sagte sie. »Das war ihr letzter.«
Bella nahm ihre viel zu große Brille ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Hanna warf ihr einen drohenden Blick zu. Bella senkte den Kopf und setzte die Brille wieder auf.
In den Tagen darauf bemerkte Hanna, dass Bella und Rachel immer wieder anfingen zu streiten. Es waren zunächst nur kleine Kabbeleien, unfreundliche Bemerkungen, beleidigtes Schweigen. Doch als sie Miras Besitztümer unter sich aufteilten, kam es zu einer offenen Auseinandersetzung. Bella und Rachel wollten beide den lindgrünen Pullover, den Mira vor einem Jahr organisiert hatte und der inzwischen eher grau als lindgrün war. Keifend und schimpfend gingen sie aufeinander los. Hanna hörte ihnen ungläubig zu. Natürlich war der Pullover warm, aber darum ging es wohl nicht.
»Du kannst dir doch jederzeit etwas in der Kleiderkammer besorgen, warum gönnst du mir diesen Pullover nicht?«, fauchte Bella. »Immer verlangst du eine Extrawurst, nur wegen deinem Arm.«
Und Rachel antwortete genauso böse: »Du bist es doch, die immer etwas Besonderes will, besonders viel
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