Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
Kohlenzuteilungen reichten höchstens aus, um die Menschen vor dem direkten Erfrieren zu retten, aber nicht dazu, um den Raum auch nur ein bisschen warm zu bekommen. Alles, was irgendwie brennbar war, wanderte in den Ofen. In ganz Theresienstadt war kein einziges Stück Holz mehr zu finden, kein Zweig, kein Abfall, der sich verbrennen ließ.
    Sie zogen zum Schlafen alle Kleidungsstücke an, die sie besaßen, und wachten morgens trotzdem steifgefroren auf. Hanna und Mira fingen wieder an, auf einer Pritsche zu schlafen, eng aneinandergedrückt wie Schafe im Winter, um sich gegenseitig zu wärmen, aber es nützte nicht viel. Ab und zu bekam Hanna von den alten Leuten einen Rest Kohlen oder ein paar Bücher geschenkt, die sie verbrennen konnten. Dann drängten sich alle Frauen des Saals um den Ofen und hatten wenigstens für ein paar Minuten die Illusion von Wärme.
    Das einzig Gute war, dass die Kälte die obere Hautschicht taub machte und man die Bisse des Ungeziefers nicht mehr so spürte. Die Wanzenplage nahm im Winter zwar ab, aber ganz los wurde man diese ekelhaften Blutsauger nicht, selbst wenn man die Kleidung und die Decken Tag für Tag sorgfältig ausschüttelte. Das Beste war immer noch, die Wanzen zu jagen und zu zerdrücken. Manchmal konnten sie ihre Kleidungsstücke in einem Fass mit einer widerlich stinkenden Flüssigkeit desinfizieren, aber viel half das nicht, die nächsten Flöhe und Wanzen warteten bereits.
    Die Kälte nahm weiter zu. In den Waschräumen waren die Leitungen zugefroren, und bald ließ sich auch aus den Brunnen kein Wasser mehr holen. Die Schlangen vor den wenigen noch funktionierenden Wasserleitungen wurden immer länger. Hanna, Rachel, Bella und Rosa hörten einfach auf, sich zu waschen, trotz Miras Drängen und ihrer Ermahnungen. Bis Bella zufällig einen Wasserhahn in einer Kasematte entdeckte, der auch bei größter Kälte nicht einfror. Sie waren allerdings nicht die Einzigen, die diese Stelle kannten, sie mussten oft stundenlang warten, bis sie an die Reihe kamen.
    Es konnte nicht ausbleiben, dass sie sich erkälteten. Sie hatten Halsweh und Schnupfen und Bella klagte über Ohrenschmerzen. Mira hatte es allerdings am schlimmsten erwischt. Sie bekam Fieber, hohes Fieber, und atmete keuchend. Schließlich blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Freundin ins Krankenhaus zu bringen.
    »Sie hat eine Lungenentzündung«, sagte der Arzt, ein älterer, freundlicher Mann. »Sie ist ernsthaft krank.«
    Bedrückt gingen sie zurück. Es hatte geschneit, eine weiße, glitzernde Decke verbarg an diesem Tag all den Schmutz und das Elend.
    In dieser Nacht konnte Hanna nicht schlafen, ihre Pritsche kam ihr, ohne Mira an ihrer Seite, unendlich leer und verlassen vor. Sie warf sich unruhig hin und her und irgendwann fing sie an zu weinen.
    Jemand berührte ihren Arm. »Hanna«, flüsterte Rachel, »ich kann auch nicht schlafen. Willst du zu mir kommen?«
    Dann, als sie nebeneinander lagen, sagte Rachel leise: »Ich habe Angst, Hanna.«
    »Ich auch«, sagte Hanna.
    Sie erinnerte sich an die Märchen, die ihr früher oft Trost gespendet hatten, und dachte: So vergingen der Sommer und der Herbst, aber nun kam der Winter, der lange, kalte Winter. Alle Vögel, die ihr so schön vorgesungen hatten, flogen davon, Blätter und Blumen verwelkten, das große Klettenblatt, unter dem sie gewohnt hatte, rollte sich zusammen, dass nichts mehr übrig blieb als ein gelber, verwelkter Stiel.
    Rachel weinte leise vor sich hin. Hanna nahm sie in den Arm und hielt sie fest, wie man ein weinendes Kind festhält. Rachels Weinen war stärker als die Erinnerung an Märchen.
    Mira
    Ich habe gehört, was der Arzt gesagt hat, eine Lungenentzündung, hat er gesagt, sie hat eine Lungenentzündung. Hast du es auch gehört, Joschka? Hat er es gesagt, weil er dachte, ich wäre im Fieberdelirium und könnte es sowieso nicht verstehen? Oder war es ihm egal, ob ich es verstehe oder nicht, weil er schon so viel Leid und Tod gesehen hat, dass er stumpf und gefühllos geworden ist? Ich weiß es nicht und eigentlich ist es auch egal. Was eine Lungenentzündung in Theresienstadt bedeutet, ist hier jedem klar, ich bin nicht die Erste, die eine bekommt. An einem Ort wie diesem hat man kaum eine Chance, eine Lungenentzündung zu überleben, das weiß ich, und du weißt es auch, mein Bruder, ich sehe es dir an.
    Soll das alles gewesen sein, mein ganzes Leben? Zweiundzwanzig Jahre, in denen ich zu wenig und zu viel erlebt habe? Gut, ich

Weitere Kostenlose Bücher