Ein Buch für Hanna
Krankenhaus gebracht hatten, noch eine weiße, glitzernde Decke gewesen war, hatte sich in Schlamm verwandelt, in graubraunen Matsch, nur da und dort waren zwischen Pfützen aus getautem Schnee noch ein paar weißliche Flecken zu sehen. Der Himmel war grau, dunkle Wolken hingen bis auf die Gebäude herab, verbargen die Wachttürme, verbargen jede Ahnung von einer Welt außerhalb dieser Hölle.
Später kam Sarah herauf zu ihnen, wie sie es jeden Abend tat, seit sie in diesem Saal lebten. Hanna wich ihrem Blick aus, wiederholte die Worte, die sie von der Pflegerin gehört hatte: »Sie ist letzte Nacht gestorben.« Sie merkte selbst, dass sie auch im Tonfall der Frau sprach, und fügte ebenso müde und gleichgültig hinzu: »Tut mir leid.«
Sarah machte einen Schritt vorwärts und streckte die Arme aus, aber Hanna drehte sich um und stieg hinauf auf ihre Pritsche. Rachel, Bella und Rosa folgten schweigend Hannas Beispiel. Sarah ließ die Hände sinken, mit hängenden Schultern stand sie in dem schmalen Gang zwischen den Pritschen. Hanna sah sie da stehen und wusste, dass sie wartete, auf ein Wort, auf ein Zeichen, aber sie konnte nichts sagen. Sarah hatte nichts mit Mira zu tun gehabt, kannte sie kaum, in dieser Situation war sie ein Eindringling. Schließlich drehte Sarah sich um und verließ den Saal, mit gesenktem Kopf und gebeugtem Rücken, wie ein geschlagener Hund.
Hanna lag auf der Pritsche, sie fühlte sich vollkommen leer. Und aus der Leere in ihrem Inneren tauchte das Bild ihrer Mutter auf, wie sie mit starrem Gesicht auf einem Hocker saß, neben Tante Hetty, die laut weinte. Sie sah, wie jüdische Frauen kamen, die sie kaum oder gar nicht kannte, ihrer Mutter die Hand drückten und sich eine Weile zu ihr setzten. »Dein Vater war ein guter Mann, Hannelore«, sagten sie. Und jemand strich ihr über den Kopf und sagte mitleidig: »Du armes Kind, vaterlos in der Welt zurückgeblieben.« An diesen Satz erinnerte sie sich, ohne zu wissen, wer ihn ausgesprochen hatte, nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau gewesen war. Nur daran, dass Helene sie aus dem Wohnzimmer in die Küche gezogen hatte. Auf einmal wusste sie auch wieder, wie das Wohnzimmer ausgesehen hatte: ein ovaler Tisch, Stühle, ein Sessel, ein Sofa. Und in einem Glasschrank ein Blumenservice, das sie, soweit Hanna sich erinnerte, nie benutzt hatten. Erst nach dem Tod des Vaters waren sie in die kleine Wohnung im vierten Stock umgezogen. Die Mutter hatte die Möbel und das Geschirr verkauft, alle Gegenstände, die sie nicht mehr brauchten, auch die Betten aus dem Kinderzimmer und Hannelores Puppenstube, weil es in der neuen Wohnung nicht genug Platz für eine Puppenstube geben würde.
Hanna hatte damals mehr über den Verlust der Puppenstube geweint als über den Verlust ihres Vaters, der für sie nur ein ernster, schweigsamer Mann gewesen war, in dessen Gegenwart sie sich nie wohlgefühlt hatte. Er hatte entweder in der Küche oder im Wohnzimmer gesessen, im Sessel, und eine Zeitung gelesen. Helene hatte oft gesagt, er sei einmal anders gewesen, er sei sogar manchmal mit ihnen in den Zoo gegangen. Hanna erinnerte sich nicht, je im Zoo gewesen zu sein. Mit mir und ihm hat es nicht geklappt, dachte sie nun bedauernd. Schade, aber daran kann man nichts ändern. Plötzlich, nach so vielen Jahren, spürte sie den Verlust. Sie hätte gern einen Vater gehabt, an den sie sich voller Trauer und Sehnsucht hätte erinnern können.
Am nächsten Morgen wachte sie mit dem Gefühl auf, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Noch mit geschlossenen Augen streckte sie die Hand aus, tastete über den Strohsack auf der anderen Pritsche, als hoffte sie, sie hätte nur geträumt, und wusste, noch bevor ihre Finger den rauen Stoff berührten, dass da niemand war. Doch wieder stellte sich keine Trauer ein, nur diese Leere, die aus ihrem Inneren nach außen drang und sie einhüllte. Ihr war, als bewege sie sich in einer Luftblase. Sie stand morgens auf, wie Mira es verlangt hätte, sie wusch sich, wie Mira es verlangt hätte, sie wartete in der Schlange vor dem Kessel mit der Brühe, die auch sie schon längst als Kaffee bezeichnete, sie ging zur Arbeit, sie wartete mittags in der Schlange vor dem Suppenkessel, bevor sie wieder zur Arbeit ging, sie wartete abends in der Schlange, bevor sie sich auf ihre Pritsche legte. Alles, wie Mira es verlangt hätte.
So ging es tagelang. Hanna bewegte sich wie in einem Traum, wie in einem Albtraum. Sie versuchte, sich mit
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