Ein Clochard mit schlechten Karten
riesigen
Schlund. Die nicht mehr vorhandenen Zähne konnte man besser sehen als die, die
noch im Zahnfleisch steckten. Aus der Höhle kam schallendes Gelächter.
„Also, M’sieur ,
Sie haben ‘ne Art sich vorzustellen! Was soll der Quatsch?“
„Hier meine Karte...“
Als ich sie ihr in die schmuddlig fleckigen Hände schieben wollte, merkte ich, daß
es die falsche Karte war. Nicht nötig, daß das Personal über die Bekanntschaft
ihrer Chefin mit einem Privatflic Bescheid wußte. Ich
steckte die Karte wieder in die Tasche und gab ihr eine ohne Berufsbezeichnung.
„Hier meine Karte“, wiederholte
ich. „Geben Sie sie Joséphine und sagen Sie ihr, sie soll mich nicht zu lange
warten lassen.“
„Sie sind ja ‘n komischer
Vogel“, bemerkte die Frau. „Haben Sie mehrere Namen oder was?“
Aber ob ich nun einen oder
mehrere Namen hatte, schien sie nicht übermäßig zu beunruhigen. Sie hielt das
Kärtchen nah an ihre kurzsichtigen Augen. Die Diskretion in Person.
„Ach, verstehe! Nestor Burma.
Ein Kollege von M’ame , was?“
»Ja*
„Kommen Sie rein, M’sieur . Werd mal nachsehen. Zwei
sind im Wartezimmer und einer im Sprechzimmer. Macht’s Ihnen was aus, in der Küche
zu warten?“
Das war mir völlig egal. Ich
setzte mich in die Küche und wartete, Pfeife im Mund. Nach ‘ner Weile kam die
Ex-Puff-Gouvernante.
„ M’ame Jo kommt sofort“, sagte sie. „Wollen Sie ‘n Kaffee?“
„Gerne.“
Sie hantierte mit einem Topf.
„Sagen Sie mal, alter Freund“,
lachte sie. „Sie lügen ja wie gedruckt! Hab Jo gefragt, ob Sie der Fakir sind. Siesagt nein.“
„Tja, ihre hellseherischen
Fähigkeiten lassen eben so langsam nach.“
Die Frau hüllte sich in
Schweigen, zuckte die Achseln und kochte Kaffee. Eine
Minute. Eine Schweigeminute für die Kartenlegerin. Dann noch eine. Und noch
einige andere. Endlich ein dumpfes Geräusch. Die Haustür hatte sich leise
geschlossen. Darauf folgte ein metallenes Klimpern, das sich der Küche näherte.
Im nächsten Moment stiegen mir alle Gerüche Arabiens in die Nase, außer dem von
Erdöl. Joséphine stand vor mir.
„Guten Tag, Nestor“, begrüßte
sie mich mit ihrer stets heiseren Stimme. „Wir haben uns ja schon ‘ne Ewigkeit
nicht mehr gesehen, hm? Welch günstiger Wind weht Sie
zu mir?“
Günstiger Wind? Von wegen!
Daran glaubte sie genauso wenig wie an das leere Geschwätz, das sie ihren
Klienten vorsetzte. In ihren riesigen schwarzen Augen stand eine gewisse
Unruhe. Sie hatten dunkelbraune Ringe, die Wimpern waren mit Tusche
vollgekleistert und bis zu den Schläfen verlängert. Joséphines Unruhe war
verständlich. In ihrer Branche mußte sie immer damit rechnen, was aufs Dach zu
kriegen. Und ein Privatflic konnte nur Schlechtes
bedeuten.
Joséphine war eine Frau von
etwa fünfzig. Gut erhalten, ziemlich kräftig gebaut. Ihr rötlichbraunes Gesicht
besaß edle Züge; jedenfalls ein angenehmer Anblick. Als anerkannte Hellseherin
im Handelsregister eingetragen und steuerpflichtig, las sie im Kaffeesatz, in
Tintenflecken, in Tarockkarten, in einer Kristallkugel und ‘ner Menge anderem
Zeug. Je nach Preis und Gesicht des Opfers. In ihrer Freizeit widmete sie sich
anderen Dingen als dem Okkultismus. In ihren Adern floß arabisches Blut.
Weniger übrigens, als sie behauptete. In Wirklichkeit war sie das Ergebnis
einer konsequent vollzogenen Fraternisierung. Ihre Mutter war ein Nomadenkind,
ihr Vater ein Feldwebel (oder mehrere) der Kolonialtruppen. Trotz ihrer
hellseherischen Fähigkeiten hatte sie ihn nie genau identifizieren können. Als
in den Kolonien noch alles relativ gut lief, prahlte sie selbstgefällig mit
ihrer Herkunft. Die orientalische Note beeindruckte die Kundschaft. Zu der Zeit
nannte sie sich Zorga-Tinéa . Das wird frühere und
heutige Leser von L’Atlantide dunkel an etwas
erinnern. Madame Zorga-Tinéa , „Mischling von Hause
aus, direkt aus Algerien“. Wie ein Primeur mit
geprüfter Herkunftbezeichnung . Seit den
Auseinandersetzungen zwischen dem Mutterland und den Departements jenseits des
Mittelmeers ließ sie jedoch den ethnischen Aspekt entschieden in den
Hintergrund treten. Nur nicht die Kundschaft verjagen! Die ängstlichen
Kleinbürger hätten am Ende noch einen Fellagha unter ihrem Rock vermutet. Von da an nannte sie sich also nicht mehr Zorga-Tinéa , sondern Joséphine, wie alle Welt. Wenn sie
auch noch immer ein „Mischling“ war, wußte doch niemand, woher sie kam.
Übrigens kümmerte sich in Paris kein
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