Ein dickes Fell
Hundes führen. Drei Jahre hatte er benötigt, um eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Er war ein erfolgreicher Künstler geworden, hatte sich eine erfundene Biographie zugelegt und besuchte jährlich das Grab zweier Leute, die er für seine Eltern ausgab, bloß weil sie Janota hießen. Denn zumindest dieser Name stimmte, war das einzige, was ihm geblieben war. Ansonsten hatte er alles verloren. Auch sein Körper war ja nicht mehr derselbe. Es war deutlich zu sehen, wie er da vor dem Badezimmerspiegel stand und sich die eingeschäumten Teile seines Gesichts rasierte: Haare auf den Schultern, Haare auf der Brust. Überhaupt hatte sich eine pilare Heftigkeit seiner bemächtigt, wie sie früher undenkbar gewesen wäre. In dieser fremden alten Welt schienen Haare sehr viel intensiver zu wachsen, jedermanns Haar, auch das eines Menschen aus der Zukunft.
Doch Janotas Schmerz führte noch tiefer. Selbst der Umstand, in dieser einen Dekade sehr viel muskulöser geworden zu sein, ja, einen durchtrainierten, regelrecht bauchfreien Körper entwickelt zu haben, bedeutete ihm alles andere als einen Trost. Seine Verlobte hätte diese Optimierung des Äußeren eher als abstoßend empfunden, als sichtbaren Ausdruck einer Verwahrlosung. Vielleicht sogar als Beweis für ein geistloses und kriminelles Dasein. Denn was war von einem Mann ohne Bauch zu halten? Weshalb sollte es jemand nötig haben, topfit zu sein? Warum könnte ein korrekter und zum Denken fähiger Mensch gezwungen sein, seine Hände in die Füße zu nehmen und schneller als jemand anders zu laufen?
So zumindest dachten die Menschen in der Zukunft, die wenig von Sport hielten und ein unverkrampftes Verhältnis zu ihren Bäuchen besaßen. Und die sich dafür geniert hätten, auf hundert Metern unter zwölf Sekunden zu bleiben. Als wäre man ein Tier, das jagt.
Aber es war nun mal nicht die Zukunft, in der sich Janota befand, sondern ein beliebiges Stück Vergangenheit. Was nützte ihm hier ein Bauch? Was nützte ihm eine Art von Intelligenz, die niemand begriff und die man wohl eher als einen Ausdruck geistiger Umnachtung empfunden hätte? Was nützte es, Fremdsprachen zu beherrschen, von deren Existenz noch keiner etwas gehört hatte? Man stelle sich eine Welt vor, in welcher niemand Fußball spielt. Die Fähigkeit, hintereinander drei fremde Menschen zu überdribbeln, wäre in ihr wohl bedeutungslos.
Das ist natürlich eine Binsenweisheit. Aber Janota mußte diese Binsenweisheit erst einmal akzeptieren. Schweren Herzens begann er, seinen Bauch zu verlieren. Und mit dem Bauch schwand auch seine Hoffnung, je wieder dorthin zurückzukehren, wo seine Verlobte, seine Freunde, sein Schwiegervater, seine Karriere und ein zu unterzeichnender Grundstücksvertrag in der Zeit feststeckten. Sieht man vom Vorrücken dieser Zeit in allerwinzigsten Einheiten ab.
Die Entscheidung, ausgerechnet Komponist zu werden, hing mit einer Anekdote zusammen, die Janota in seinem ersten Jahr aufgeschnappt hatte. Darin wird berichtet, daß der für seine Nervosität anläßlich von Reisen bekannte österreichische Komponist Alban Berg einmal ganze drei Stunden zu früh auf einem Bahnhof erschienen war. Um dann trotzdem seinen Zug zu versäumen.
Diese kleine Geschichte gefiel Janota. Er empfand eine große Sympathie für jemand, dem es gelungen war, dem Einsatz ganzer drei Stunden einen finalen Anstrich von Sinnlosigkeit zu verleihen. Wenn das nicht große Kunst war, an das Ende puren Fleißes etwas Nutzloses zu stellen? Jedenfalls dachte Janota anfangs, das Leben eines Komponisten würde vor allem darin bestehen, auf Bahn- oder Flughäfen zu stehen und Züge und Flugzeuge zu versäumen. Ja, er war derart angetan von der intelligenten Zeitverschwendung Alban Bergs, daß er beschloß, nach Wien zu reisen und den Komponisten aufzusuchen. Denn es war ja nicht Wien gewesen, wohin das Zeitloch ihn entlassen hatte, sondern ein kleiner Ort in Sibirien. Ein Ort, an dem auch ein paar gebildete Leute lebten, die solche Alban-Berg-Geschichten auf Lager hatten.
Sämtliche Bemühungen Janotas, in ein sibirisches Zeitloch zu gelangen, waren gescheitert. Eine Reise drängte sich somit auf, wie bei allen Verzweifelten. Darum Wien.
Dort angelangt, mußte Janota freilich mit Bedauern feststellen, daß Alban Berg bereits seit sechzig Jahren tot war. Dennoch blieb er in dieser Stadt. Und ebenso hielt er an seiner Entscheidung fest, Komponist zu werden, auch wenn er bald begreifen mußte, daß mehr zu tun
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