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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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war, als Züge und Flugzeuge zu versäumen.
    Musik gehörte nun zu den Dingen, die ihm völlig neu waren. Musik existierte in seiner Welt nicht. Zumindest nicht als Genuß, sondern bloß als Strafe, wenngleich natürlich auch heute schon so mancher Rezipient diese Auffassung vertritt.
    Das Erlernen der Techniken fiel Janota nicht schwer. Sein Gehirn arbeitete ganz vorzüglich. Er war rasch zu einem begehrten Tonkünstler aufgestiegen. Allerdings gab es Kritiker, welche beklagten – als wären sie mit Mascha Reti im Verein –, daß Janotas Musik sich anhöre wie das Produkt eines genialen, aber unmenschlichen Ingenieurs.
    Nun, Janota war ja auch Ingenieur. Aber das konnte er nicht sagen. Seiner erfundenen Biographie zufolge hatte er in Moskau Musik und deutsche Literatur studiert. Nicht etwa, weil der Sturz durch ein sibirisches Zeitloch ihn veranlaßt hatte, sich für einen Russen zu halten. Vielmehr war ihm rasch aufgegangen, daß in Moskau studiert zu haben, einem Menschen eine besondere Aura verlieh. Freilich ohne daß diese Aura sich halbwegs konkret hätte begründen lassen. Aber so ist das mit den Auren. Sie stehen da wie Fliegenpilze und sind nett anzusehen. (Man bedenke einmal, wie oft Fliegenpilze in Kinderbüchern abgebildet sind. Ununterbrochen. Sogar freundliche Zwerge hausen in ihnen. Und das bei einem Ding, das giftig ist. Verrückt! )
    Apostolo Janota war also der Komponist einiger bedeutender Filmmusiken geworden und hatte zudem Symphonien, eine Ballettmusik, zwei kleine Opern, ein ernst gemeintes Streichquartett für Schwertfische und ein weniger ernst gemeintes für Reiseleiter verfaßt. Er war mit diversen hohen Preisen ausgezeichnet worden. Sogar mit einem Oscar, den er mit einer Miene entgegengenommen hatte, als reiche man ihm eine Klobürste. Dabei war er weder arrogant noch elitär. Nicht in dem üblichen Sinn, daß er sich für etwas Besseres hielt. Vielmehr hielt er alles und jeden auf dieser Welt für etwas Schlechteres. Für zurückgeblieben.
    Zudem war es natürlich ein merkwürdiges Gefühl, mit Menschen zusammen zu sein, die genaugenommen schon vor Ewigkeiten gestorben waren. Die also bei aller Lebendigkeit, mit der sie durchs Leben schritten, nicht wirklich existierten, sondern bloß noch als ein Abdruck ihrer selbst. Als Abdruck einer jeden Bewegung, eines jeden einst gedachten Gedankens. Abertausende von Jahre alt.
    Es gab da einen Ausspruch, der Janota mehr berührte, als alles, was ihm in dieser alten Welt an Philosophischem oder Religiösem begegnet war. Einen Satz aus Terry Gilliams Sciencefiction-Film 12 Monkeys, in dem der aus der Zukunft kommende und von Bruce Willis gespielte unfreiwillig Freiwillige namens Cole sich umsieht und meint: »Alle, die ich da sehe, sind schon tot.«
    Genau so ging es Janota. Absolut. Was nun dazu führte, daß er dem unveränderbaren Schicksal der ihn umgebenden Menschen mit ziemlicher Gleichgültigkeit gegenüberstand. Ihre Fehler und Irrtümer lagen zu weit zurück in der Geschichte. Andererseits war Janota seit zehn Jahren gezwungen, an dieser vorgestrigen Episode teilzuhaben. Ja, sie sogar um seine Filmmusik, seine zwei kleinen Opern und einiges mehr bereichert zu haben. Schizophren!
    Ja, das war es. Eine dumme Sache, die man kaum mit beiden Augen vollständig betrachten konnte, sondern immer nur mit einem, während man das andere geschlossen halten mußte, um überhaupt etwas zu sehen. Mit beiden Augen betrachtet, erkannte Janota nichts, was er hätte begreifen können.
    Einmal jedoch war ein wenig Hoffnung in sein »falsches« Leben gefahren. Das war gewesen, als er seine spätere Frau, als er Nora kennengelernt hatte. Besser gesagt das Haus, in dem Nora lebte. Ein an sich häßliches, kleines Ding, dieses Haus. Es war kurz nach dem Krieg erbaut worden und sah auch genauso aus. Ein Gebäude wie auf einer Kinderzeichnung, mit Satteldach und Dachziegeln, mit weißlich getünchtem Mauerwerk, ein paar Fenstern rundherum und einer Türe zur Straße hin. Kein Balkon, keine Garage, keine Terrasse. Der Schornstein war ein gerader Finger, die Regenrinne eine Rohrpost für vertrocknete Blätter, die Fensterläden schief. Seitlich vor dem Haus stand ein Baum, der hin und wieder kleine Äpfel trug, wie man hin und wieder ins Theater geht. Aber wann tut man das schon?
    Hinter dem Haus erstreckten sich ein paar Meter Gestrüpp und eine Wiese in der Art und von der Größe eines abgetretenen Teppichs. Um das Grundstück herum führte ein verrosteter

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