Ein dickes Fell
ziemlich russisch. Doch gemäß seiner Art, hin und wieder eine vollkommen verständliche Formulierung in sein kunstvolles Kauderwelsch einzuflechten, war nun deutlich zu vernehmen, wie er sagte:
»Schöne Brille.«
Frau Dr. Sternberg lächelte. Und zwar mit den Augen, passenderweise.
VI Viel, sehr viel Wasser
Woran glaube ich, wenn ich an eine Seele im Menschen glaube? Woran glaube ich, wenn ich glaube, diese Substanz enthalte zwei Ringe von Kohlenstoffatomen? In beiden Fällen ist ein Bild im Vordergrund, der Sinn aber weit im Hintergrund; d. h., die Anwendung des Bildes nicht leicht zu übersehen.
PHILOSOPHISCHE UNTERSUCHUNGEN, LUDWIG WITTGENSTEIN
20 Lauter Tote
Ein Geräusch drang durch den Telefonhörer, als hätte das Rad eines Lasters einen kleinen Vogel zerquetscht. Knatsch und Punktum! Der Anrufer hatte aufgelegt.
Nun war Apostolo Janota zwar kein wirklicher Star, wie das für einen Schauspieler oder Rockmusiker hätte gelten können. Andererseits war der Umstand, mit Robert de Niro vierhändig Klavier gespielt zu haben und als Komponist für die Neuverfilmung von Citizen Kane im Gespräch zu sein, dazu geeignet, ein paar Verrückte anzuziehen. Und Verrückte gab es natürlich immer, die Geheim- und Handynummern erkundeten, um sodann die Reichen und Berühmten zu terrorisieren. Oder ihnen zumindest ein Gefühl für die Wirklichkeit zu geben, die ja darin besteht, nicht alleine auf dieser Welt zu sein. (Was nützt der ganze Solipsismus, wenn einem auf der Ebene des Realen, so imaginiert das Reale sein mag, die allerschrecklichsten Menschen begegnen, so imaginiert sie auch sein mögen.)
Die Frage, die sich nun allerdings für Janota stellte, war die, ob es sich bei diesem Anrufer wirklich um einen Verrückten handelte. Oder nicht doch um jemand, der nur zu gut wußte, wovon er sprach, wenn er behauptete: »Sie sind in größter Gefahr, Janota. Und wenn Sie das für einen Scherz halten, tun Sie mir leid.«
»Scheiße einfach!« sprach Janota zu sich selbst. Er stand vor dem Spiegel, nackt bis auf die faltige, blaßblaue Leinenhose, und rasierte sich. Sein Handy hatte er auf den schwarzen Stein zurückgelegt. Neben die Sonnenbrille hin, die er neuerdings trug, um diese komische Welt, in die er geraten war, nicht länger in vollem Licht betrachten zu müssen. Er hatte sie satt, die Welt. Und wie er sie satt hatte.
Das mochte auch ein wenig damit zu tun haben, daß er bezüglich dieser Welt ein rundes Jubiläum feierte. Er war jetzt zehn Jahre hier. Zehn Jahre, in denen er sich an einiges gewöhnt hatte. Das meiste allerdings war ihm unerträglicher denn je. In erster Linie natürlich der simple Umstand, ein fremdes Leben führen zu müssen. Wenn das überhaupt ein Leben war und nicht bloß etwas, das alleine in seinem Kopf geschah.
Zehn Jahre! Vor zehn Jahren hatte das Unglück begonnen, ohne daß Janota den Tag genau hätte bestimmen können. Denn zunächst war er viel zu verwirrt gewesen, um sich auf ein Datum zu konzentrieren. Er war wie ein Tier durch diese ihm unbekannte Dimension geirrt. Ein Tier, das nicht hierher gehörte, dessen Körper und Funktionen, dessen Sinne und Instinkte einer anderen Epoche und Landschaft entstammten.
Er selbst hatte etwas Derartiges für unmöglich gehalten, für eine lächerliche Theorie und mediale Mär: in ein Zeitloch zu fallen. Alter dummer Menschheitstraum. Wobei es freilich ein gewaltiger Unterschied war, ob man in irgendwelchen intelligenten Maschinen saß und bequem durch die Zeiten reiste – die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen – oder ob man unwillentlich in eins dieser Löcher hineinstolperte. Letzteres war Apostolo zugestoßen. Er war gestolpert und gestürzt und durch die löchrige Pampe aus Zeit und Raum gefallen.
So kurz dieses Fallen gewesen war, erwies sich die Distanz als beträchtlich. Die Gegenwart, aus welcher er kam, war von jener, in die er geraten war, so weit entfernt, daß man gar nicht erst nachzurechnen brauchte.
Damit nicht genug, war Janota ausgerechnet an einem Höhepunkt seines Lebens aus selbigem gerissen worden. Wie jemand, der nur Sekunden, bevor er ein verdientes Glück einlöst, von einem entlaufenen Nashorn niedergetrampelt wird. Oder ähnlich obskur um seinen Segen gebracht wird.
Janota war im Begriff gewesen, eine führende Position einzunehmen, im Begriff gewesen, eine wunderbare Frau zu heiraten, ein traumhaftes Grundstück zu erwerben, zum Katholizismus überzutreten (der wunderbaren
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