Ein dickes Fell
Markus«, sagte Rubinstein.
Cheng entspannte sich. Ohne allerdings den Eindruck zu machen, er würde das Versprechen, nicht gefressen zu werden, wirklich glauben. Andererseits war es ihm nun gleichgültig, ob er gefressen wurde oder nicht. Er schien einfach zufrieden, diese Frau neben sich zu spüren. Muschel oder Haifisch – egal.
Rubinsteins cremige Lippen setzten sich auf Chengs Mund. Viele Sekunden lang passierte nichts anderes, als daß die beiden Münder aufeinanderlagen, einer auf dem anderen wie auf einer Matte verweilend, sich erholend. Das war eigentlich das Beste, was zwei Menschen passieren konnte, dieser Moment der Ruhe, der nicht zuletzt aus der Einfachheit solcher Vereinigung resultierte. Und aus der Kürze des Moments. Wie ja die meisten wirklich guten Dinge ungemein kurz und ungemein einfach sind, da braucht man nur in die Physik zu schauen. Diese Kürze hat freilich auch etwas Trauriges, gerade darum, weil sie notwendig ist, also unabänderlich. Man stelle sich vor, stundenlang seine Lippen auf anderen Lippen zu belassen: die Probleme beim Atmen, der Speichelfluß, die Müdigkeit, die Langeweile, die Rückenschmerzen, vor allem aber das Gefühl, etwas vollkommen Albernes zu tun, etwas wie Dauertanzen, Knödelwettessen, Marathonlaufen oder Tieftauchen.
Und weil also dieses Wunderbare eines ersten, zungenlosen Kusses sicher nichts mit der Bewältigung von Knödeln oder Kilometern zu tun hatte, nahm Rubinstein ihre Lippen von jenen Chengs und sagte: »Ginette.«
»Was?«
»Ich heiße Ginette. Der Vorname, den du unbedingt wissen wolltest. Was ich jetzt fast ein bißchen schade finde, ihn dir genannt zu haben. Aber es stimmt, man kann nicht jemand küssen und ihm seinen Namen nicht sagen. Das tun die Leute, wenn überhaupt, nur in Pornos. Und was wir beide vorhaben, Markus, wird kein Porno sein. Oder?«
Das war natürlich eine interessante Art, einen Mann danach zu fragen, ob er sich ein bloßes Abenteuer wünschte. Nun, das tat dieser Mann hier ganz und gar nicht, da die Abenteuer seines praktizierten Detektivismus ihm durchaus genügten. In Fragen der Liebe sehnte er sich nach einem Niveau, das den gerade geküßten Lippenkuß als Vorbild nahm und also auch in langfristigen und komplizierten Dingen eine Einfachheit und unaufgeregte Schönheit anstrebte. Soweit dies eben möglich war.
»Kein Porno«, sagte Cheng und faßte nach Ginette Rubinsteins Hand, die er in der Art eines Okkultisten betrachtete. Ohne freilich im Sinn zu haben, aus dieser Hand zu lesen. Er hielt derartiges für absoluten Schwachsinn. So besiegelt die Zukunft auch sein mochte, sie offenbarte sich nicht. Darin bestand nämlich ihr ganzer und einziger Sinn: sich nicht zu offenbaren. Nur darum konnte sie überhaupt bestehen. Eine offenbarte, eine in Innenhandflächen eingeschriebene Zukunft, wäre dann bloß noch eine noch einzulösende Gegenwart gewesen. Als ginge man ins Kino, aber nicht um den Film zu sehen, den man ja schon kannte, sondern allein, um sich die Eintrittskarte abreißen zu lassen. Was schön blöd wäre.
Cheng war also sicher kein Handleser. Doch seine Nachdenklichkeit, während er eher zufällig auf die Hand der Frau sah, erzeugte einen solchen falschen Eindruck. In Wirklichkeit aber überlegte Cheng, daß Ginette doch wohl kein jüdischer Name sei. Und das sagte er jetzt auch, obwohl ihm die Erwähnung von etwas Jüdischem oder explizit Nichtjüdischem ein wenig unangenehm war. Er hatte noch selten erlebt, daß bei diesem Thema etwas Gutes herauskam. Es war ein Thema, bei dem alle aggressiv wurden, die Juden wie die Nichtjuden wie die Halbjuden und die Möchtegernhalbjuden und natürlich die Möchtegernnichtjuden. Man konnte einfach nicht darüber reden, über Israel und solche Sachen, ohne daß ein jeder ungemein persönlich wurde, quasi auch zu sich selbst, sofort etwas bekennend oder eingestehend, eigentlich die ganze Zeit ungefragte Fragen beantwortend. Und dies also in einem viel zu energischen Tonfall und auf eine offensive Weise. Und eine Spur dieser ungewollten Heftigkeit – wie jemand, der sich entschuldigt, obwohl er sich doch gar nicht entschuldigen möchte – steckte auch in Chengs Einwurf, Ginette sei seines Wissens kein jüdischer Name.
»Ist er auch nicht«, sagte Ginette. »Warum?«
»Ja, warum eigentlich?« versuchte Cheng eine Kurve zu machen, wo keine Kurve war.
Ginette war aber halbwegs gnädig und erklärte: »Ginette kommt von Geneviève. Und Geneviève von Genoveva. Die Frau von
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