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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Allerdings muß man ihnen dabei helfen. Wenn die Vergangenheit zum Trauma wird, Uneingestandenes zur Psychose führt, dann nur darum, weil wir nicht richtig vergessen.«
    »Was wäre richtig ?«
    »Indem der Erwachsene mit vergißt. Also nicht nur über etwas schweigt, nicht nur alles versteckt, was eine Erinnerung auslösen könnte, nicht nur so tut, als ob, während er in Wirklichkeit alle möglichen Leute ins Vertrauen zieht. Nein, der Erwachsene muß ernsthaft an einem Vergessen arbeiten. Die Basis bereiten, auf der dann auch das Kind vergessen kann, ohne sich einen Defekt einzufangen. Es gibt Wunden, die verheilen, und es gibt Wunden, die eine Narbe hinterlassen. Und es gibt ein paar verdammte Erreger, die immer ausbrechen, wenn man es nicht brauchen kann. Und man kann es natürlich selten brauchen. Aber das muß nicht so sein. Ein Virus ist ein Ball, der ein Spielfeld benötigt. Wenn man aber das Spielfeld streicht, kann auch nicht gespielt werden.«
    »Was an der Existenz des Balls nichts ändert.«
    »Das nicht. Aber der Ball ist dann ohne Sinn und Funktion. Er schwebt im leeren Raum. Oder stürzt ins Bodenlose. Jedenfalls richtet er keinen Schaden an.«
    »Das klingt alles sehr einfach«, sagte Rubinstein.
    »Es ist auch einfach. So einfach wie Schwimmen. Wenn man schwimmen kann. Freilich, wenn jemand mit vierzig anfängt, schwimmen zu lernen oder lesen zu lernen oder das erste Mal auf einem Snowboard steht, ist das natürlich ein Problem. Und wenn er ein Kind betreut, ist das Problem ein doppeltes, weil das Kind, das sich beim Erlernen eigentlich leicht tut, ob es nun ums Schwimmen oder ums Vergessen geht, von einem Erwachsenen abhängt, der sich ganz und gar nicht leicht tut. Und da steht dann also ein vierzigjähriger Nichtschwimmer, der einem Kind das Schwimmen beibringen soll. Aber wie gesagt, es geht. Wenn man sich bemüht, können am Ende alle schwimmen.«
    »Haben Sie Kinder?«
    »Nein. Aber darauf kommt es nicht an. Wenn ich recht habe, habe ich recht. Und wenn ich unrecht habe, nützt es nichts, ein Dutzend Nachkommen gezeugt zu haben.«
    Rubinstein betrachtete Cheng wie über einen unsichtbaren Brillenrand. Es war, als sehe sie ihn zum ersten Mal wirklich und wahrhaftig an. Dann sagte sie: »Stimmt.«
    »Ich hätte auch eine Frage«, äußerte Cheng, setzte eine Pause und erkundigte sich: »Was ist mit Lenas Vater?«
    »Geht Sie das was an?«
    »Nein, das geht mich nichts an. Allerdings würde die Zahl gestellter Fragen weltweit enorm sinken, wenn man nur Fragen stellen würde, die …«
    »Wir hatten uns getrennt. Er zog nach Israel. Vor fünf Jahren. Und brauchte ganze zwei Tage, um von einer Kugel getroffen zu werden. Einer verirrten Kugel, wie man mir versichert hat. Was sich anhörte, als sei der Tod mittels einer verirrten Kugel weniger tödlich. Es war grotesk. Ein untödlicher Tod. Und man wußte nicht einmal, woher diese Kugel stammte. Einmal war von israelischer Polizei die Rede, dann von Terroristen, dann wieder von Kriminellen. Am Ende blieb nur die Kugel.«
    »Wieso ging er weg von Wien?«
    »Alle dachten, er würde vor den Verhältnissen flüchten, vor der ganzen Nazistimmung in dieser Stadt. Unsinn, er ist vor mir geflüchtet. Israel war bloß der einfachste und logischste Weg. Ich meine, wenn man Jude ist, dann tut man das halt, nach Israel gehen. So wie die Iren und die Burgenländer nach Amerika gehen und die Marokkaner nach Frankreich. Das hat mit Politik nicht viel zu tun. Nicht für den einzelnen, der unternimmt, was sich anbietet. Und dann in eine solche verirrte Kugel hineinläuft. Im Grunde sterben die meisten Menschen, die eine Kugel trifft, an verirrten Kugeln. Denn auf wen wird schon richtiggehend gezielt? Welcher Schütze weiß schon, auf wen er da schießt? Auf einen Herrn sowieso? Aber wirklich nicht. Man muß ausgesprochen prominent sein, um das Privileg zu haben, von einer Kugel getroffen zu werden, die nur einem selbst gilt, und nicht egal ist, ob sie zwei Leute weiter rechts einschlägt.«
    »Weiß Lena davon?«
    »Sie weiß, daß ihr Vater tot ist. Sie war sechs, als er ging. Sie hat gute Erinnerungen an ihn. Er hätte sie sicher oft besucht. Daran hält sie fest, am Bild der Besuche, die er nicht mehr machen kann. Von der Art seines Todes weiß sie nicht, sie denkt, er war krank. Wie auch erklärt man einem Kind einen solchen Tod? Nein, ich habe dieses Problem verschoben.«
    »Sehr vernünftig.«
    »So sicher bin ich mir da nicht. Wenn sie es von jemand anders

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