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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Wasser, das in einem geschlossenen Topf brodelt. Man spürt sie vor allem hinsichtlich der mit viel rotem Stift bemalten Frauenlippen dieser Zeit. Lippen, die das kräftigste und tiefste Schwarz hervorbringen, das man sich denken kann, ein Schwarz, das vor lauter ungekuppelter roter Farbe zu zerspringen droht.
    Genau solche Lippen besaß Rubinsteins Großmutter. Mit ihnen lächelte sie auf eine ziemlich strenge Weise. Wie jemand, der gerade noch etwas sagen wollte, es sich aber überlegt, weil sein Gegenüber es ohnehin nicht verstehen würde. Hübsche Frau, aber ausgesprochen elitär. Kein Wunder, daß sie darauf bestanden hatte, ihre Enkelin nach einer Wundergeigerin zu benennen.
    Zu jener Wundergeigerin wechselte nun Chengs Blick. Ginette Neveu wirkte auf dem Foto vollkommen lippenstiftlos, beinahe männlich, den Mund geöffnet, obwohl deutlich zu sehen war, daß sie nicht sprach, sondern der Boxer Cerdan, dessen Lippen wiederum einen nur minimalen Spalt bildeten, so, als wollte er pfeifen oder einen kleinen, warmen Wind ins Freie blasen. Auch ist es nicht die Geigerin, die ihre Stradivari in der Hand hält, sondern Cerdan. Wie um das Gewicht des Instruments zu schätzen. Ohne jedoch an einen Metzger zu erinnern. Zumindest nicht an einen von den üblichen derben Fleischhackern. Wenn schon Metzger, dann ein höchst eleganter, souveräner und betont gebildeter. Zudem merkt man Cerdan an, daß er in diesem Moment nicht nur als weltberühmter Boxer fungiert, der auf dem Weg ist, sich seinen Weltmeistertitel zurückzuholen, sondern auch als Liebhaber Edith Piafs, die gerade auf der anderen Seite des Atlantiks auf ihn wartet. Und nach seinem frühen Tod einen guten Grund mehr haben wird, dem Alkohol zuzusprechen.
    Zwischen den beiden, zwischen Ginette Neveu und Marcel Cerdan, zwischen Kunst (Boxen) und Kultur (Geige) steht, als einziger frontal zur Kamera, also zweiäugig, Jean Neveu, der Bruder der Musikerin, mit Architektenbrille, schmalem Jungengesicht, hoher Stirn und einem begeisterten Blick für Cerdan.
    Natürlich war das alles neu für Cheng. Wobei sein Interesse nicht gespielt war, also keineswegs dazu diente, etwas oder jemand auszuweichen, sich Zeit zu verschaffen und so weiter. Er war tatsächlich gebannt ob dieses historischen Fotodokuments, auf dem drei Menschen zu sehen sind, die nicht wissen können, daß sie demnächst sterben werden. Und zwar einen dieser unsinnigen Tode, die ohne jeden Bezug zur eigenen Biographie auszukommen scheinen. Also im Gegensatz zu einem Selbstmord, einer höchstpersönlichen, wenn nicht sogar selbstverschuldeten Erkrankung des Leibes, einer Leidenschaft für gefährliche Sportarten oder fettes Essen, einem Beruf, einem Hang zu unfallträchtiger Hausarbeit und so weiter. Ein Flugzeug aber, das abstürzt … Auch wenn alle davon reden, ist die Art des Unglücks den meisten Menschen völlig fremd, außer sie sind Piloten oder Flugbegleiter. Der Passagier aber ist ein »Zufallsopfer«, welches ausgerechnet an einem der sichersten Orte der Welt vom Tod überrascht wird. Denn zweifellos darf man sich ein paar tausend Meter über dem Boden und damit einer brutalen Welt und unberechenbaren Erde enthoben, zudem umgeben von robusten Materialen, die meiste Zeit sitzend, ja sogar angeschnallt sitzend, in höchstem Maße sicher fühlen. Doch mit einem Mal, nur weil irgendein Schräubchen sich lockert …
    Es rührte Cheng, diese drei Personen auf dem Foto zu sehen, welche so vollkommen glücklich schienen, zwei von ihnen auf der Höhe ihres Ruhmes, ohne deshalb nur irgendwie unsympathisch oder leidend zu wirken. Wenn es so war, daß der Champion im Mittelgewicht Marcel Cerdan die Stradivari Ginette Neveus in seinen Händen tatsächlich wog, dann eben nicht nur das Gewicht des Objekts, sondern auch ein wenig das Gewicht des Glücks, das sie alle hier umgab, kurz vor dem Abflug, in irgendeiner VIP-Lounge stehend, durchaus im Bewußtsein, fotografiert zu werden. Das sah man ihnen deutlich an. Wobei sie nicht, wie man so sagt, in ihrer Popularität badeten, sondern sich souverän am Rand der Badewanne behaupteten. Genies, aber Menschen. Letzthin sterblich.
    »Tragisch«, sagte Cheng.
    »Meine Großmutter ist niemals damit zurechtgekommen, daß Neveu so früh gestorben ist«, erzählte Rubinstein. »Sie hat aufgehört, sich für Musik zu interessieren. Mit dem Tod Neveus war für sie das Thema erledigt. Und daran hat sie ein Leben lang festgehalten. Andererseits bestand sie zwei Jahrzehnte

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