Ein dickes Fell
Siegfried und Mutter von Schmerzensreich. Ja, das wäre dann also nicht sehr jüdisch.«
»Hast du den Namen Rubinstein von deinem Mann?«
»Nein, ich war mit Lenas Vater nie verheiratet. Rubinstein ist mein Mädchenname. Glaube aber bitte nicht, die jüdische Abstammung hätte uns zusammengebracht. Wenn wir das gleich zu Beginn gewußt hätten, wären wir uns sicher aus dem Weg gegangen. Es hat etwas Lächerliches, wenn Leute mit dem bißchen semitischen Blut unter sich bleiben, wie in diesen Ärztefamilien, wo ein jeder Medizin studieren muß und man nur einen Arzt oder eine Ärztin oder zumindest den Sohn oder die Tochter von einem Arzt oder einer Ärztin heiraten darf. Dieses schreckliche Ärzteunwesen. Und da gibt’s also eine Menge Juden in Wien, die sich wie diese Ärzte aufführen. Am schlimmsten sind natürlich die, die gleichzeitig Juden und Ärzte sind. Das ist dann wie auf dem Dorf, wo die Tochter des Bürgermeisters sich zwischen ungefähr zwei oder drei Burschen einen auswählen darf.«
»Die Zeiten sind doch wohl vorbei.«
»Da träumst du aber, mein Lieber. Aber lassen wir das. Das ist nicht wirklich wichtig. Wichtig ist der Vorname. Ich verdanke ihn meiner Großmutter. Sie hat darauf bestanden, daß meine Mutter, die eine richtige Orthodoxe war und ist, mich so nennt. Zu Ehren von Ginette Neveu.«
»Wer ist das?« fragte Cheng.
»Die beste Geigerin ihrer Zeit?«
»Welcher Zeit?«
»Der Zeit nach dem Krieg. Ginette Neveu hat achtundvierzig in Wien gespielt. Bei Herrn Karajan, den ein gnädiger Gott hoffentlich aus der Musikgeschichte streichen wird. Es ist fast schon wieder schwierig, ihn schlecht zu finden, den Karajan, weil niemand, mit dem man spricht, ihn ernsthaft schätzt. Sein Ruhm ist ein Betrug, aber ein kurioser Betrug, wie Falschgeld, das jeder erkennt und trotzdem weitergibt. Na, jedenfalls war Ginette Neveu in Wien. Und im Gegensatz zu Herrn Karajan, besteht kein Zweifel über ihr Genie.«
»Dann ist das wirklich der richtige Name für dich«, sagte Cheng, unsicher darüber, ob Komplimente zu seinen Stärken zählten.
Rubinstein schien ihm aber gar nicht zugehört zu haben. Sie sah auf einen Punkt an der Wand wie in ein verzaubertes Fernsehgerät, und erzählte davon, wie die noch nicht ganz dreißigjährige Ginette Neveu in Wien Beethoven gespielt habe, gewissermaßen trotz Karajan, und dabei ihre, Rubinsteins, Großmutter kennengelernt habe.
»Die beiden waren gleich alt«, berichtete Rubinstein. »Meine Großmutter kam gerade aus der Emigration nach Wien zurück, weil das für sie der heilige Ort der Musik war. Was ich selbst für eine Übertreibung halte. Die Leute in Wien sind sicher nicht musikalischer als anderswo. Man braucht nur diese sogenannte Hausmusik herzunehmen, auf die alle so stolz sind. Vielleicht, weil sie sich selbst nicht hören. Sei’s drum. Meine Großmutter hat sich das halt eingebildet mit der Musik, obwohl diese Stadt einen Menschen wie meine Großmutter gar nicht verdient hatte. Das denke ich, war auch Ginette Neveus Meinung. Sie hat häufig mit meiner Großmutter korrespondiert. Solange eben noch Zeit war. Viel war es ja nicht. Eineinhalb Jahre danach ist die Ginette Neveu tot gewesen. Ein Flugzeugabsturz.«
Ginette Rubinstein wies hinüber auf einen weißen Kunststoffschrank mit metallenen Griffen, der etwas von einem genagelten Saurierknochen hatte, aus der Zeit, als die Saurier noch ausgesprochen geometrisch gewesen waren. Auf der Ablagefläche, rechts und links einer schmalen, rot gesprenkelten, blumenlosen Vase befanden sich zwei in Stehrahmen gefügte Bilder. Rubinstein erklärte, die eine Fotografie zeige ihre Großmutter in den Fünfzigern, während es sich bei der anderen um eine Aufnahme der Agentur Roger-Viollet handle, ein berühmtes Bild, auf dem Ginette Neveu zusammen mit ihrem Bruder und dem französischen Boxer Marcel Cerdan zu sehen sei. Die drei, miteinander plaudernd, befinden sich kurz vor ihrem Abflug nach Amerika. Wenig später werden sie tot sein.
Cheng stand auf und begab sich hinüber zu den beiden Fotografien, zuerst Ginette Rubinsteins Großmutter betrachtend, die in jenem für die Fünfzigerjahre typischen Schwarzweiß abgelichtet war, in welchem die Farbe – die Farbe der kommenden Jahrzehnte – potentiell vorhanden schien, und nur darum nicht zu sehen, weil die in das Fotopapier eingelagerten sogenannten Farbkuppler eben noch nicht gekuppelt hatten. Man spürt die Farbe auf solchen Bildern in der Art von kochendem
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