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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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schlechtem Wetter zu dokumentieren schien, diese Frau mit dem gleichzeitig schlanken und kräftigen, jedoch weniger an irgendein choreographiertes Gehüpfe, als an die Freiluft einer Aschenbahn erinnernden Körper, diese Frau ohne Vornamen, stand am Treppenabsatz und sah mit müden Augen hinunter zu Cheng. Es war eine Erschöpftheit in ihrem Blick, wie man ihn von übergroßer Liebe kennt. Liebe für Lena, das versteht sich. Aber da war noch etwas … Liebe für Cheng? Für einen Mann, den sie ja kaum kannte und der – wenn auch ungewollt – Lena in große Gefahr gebracht und nicht zuletzt den Umstand einer Tötung mittelbar verursacht hatte? Einen Umstand, den dieses Kind erst verkraften und verarbeiten mußte. Vielleicht auch niemals loswerden würde. (Wobei allerdings auch Frau Rubinstein um die abwehrende Kraft des Fechtens und des Balletts wußte und daß ihre Tochter sich wohl kaum zu einem Menschen entwickeln sollte, der sein Glück und Unglück im Selbstzweifel und anderen masochistischen Übungen fand.)
    »Ich wollte nicht stören«, sagte Cheng. »Und ich wollte ein wenig nachdenken.«
    »Nachdenken können Sie auch bei mir«, erklärte Frau Rubinstein und vollzog mit ihrem Kopf und den schwarzen, gelockten, knapp über die Schulter reichenden Haaren eine von diesen Gesten, denen man sich beim besten Willen nicht widersetzen kann. Gesten in der Art von fliegenden Teppichen, die bekanntermaßen dorthin fliegen, wohin sie selbst wollen, die Teppiche. Jedenfalls führte die Kopf- und Haarbewegung der Frau Rubinstein in Richtung der eigenen Wohnungstüre, die zu einer sehr viel schlechteren Zeit Chengs Wohnungstüre gewesen war.
    Der Detektiv erhob sich, ging nach oben und folgte Frau Rubinstein. Kurz vor dem Eintreten blieb er jedoch stehen und verwies darauf, daß man sich um die drei Kartäuser kümmern müsse.
    »Soll das heißen«, fragte Rubinstein, »daß die Dussek fort ist?«
    »Sie wird von der Polizei verhört. Außerdem wäre es unrichtig, der Frau die Katzen zu überlassen.«
    »Und? Was haben Sie vor?«
    »Ich dachte, Sie könnten … Lena könnte …«
    »Das sind schwierige Tiere, soweit ich weiß«, äußerte die Frau, deren erschöpfter Blick augenblicklich von einer kleinen Wachheit aufgehellt wurde.
    »Ich bin überzeugt«, erwiderte Cheng, »daß Lena das hinkriegt.«
    Rubinstein aber meinte, daß die Katzen Lena ständig daran erinnern würden, was an diesem Abend geschehen sei.
    »Sie haben recht«, sagte Cheng, »ich werde mir etwas anderes einfallen lassen.«
    »Sie geben aber schnell auf«, zeigte sich Rubinstein überrascht.
    »Manchmal lohnt sich Hartnäckigkeit«, erklärte Cheng, »dann wieder nicht. Es ist eine große Kunst, das zu erkennen. Richtig zu erkennen.«
    Rubinstein nickte. Ihre Wachheit war jetzt ein schöner Kranz, der ihre müden Augen deutlich umgab, sodaß ein oberflächlicher Betrachter von einer in jeder Hinsicht aufgeweckten Frau gesprochen hätte. Sie sagte: »Überlegen wir drinnen, was man mit den Katzen machen könnte.«
    Jetzt war es Cheng, der nickte. Nicht ganz so aufgeweckt. Er folgte Rubinstein in die Wohnung.
     
    »Wollen Sie mir erzählen, was geschehen ist?« fragte Rubinstein, als man sich wenig später im Wohnzimmer gegenübersaß, Rubinstein im Fauteuil, Cheng auf dem Sofa, eine etwas bettlägerige Haltung einnehmend, jeder ein Glas Rotwein in der Hand. Geraucht wurde nicht, obgleich Cheng jetzt große Lust gehabt hätte. Doch die Türe zum Schlafzimmer und weiterführend die ins Kinderzimmer standen offen. Allein die Frage nach einer Zigarette verbat sich. Eine ganze Menge Fragen verbaten sich, etwa auch die nach dem Verbleib eines Herrn Rubinstein. Gleichwohl mußte sie gestellt werden, immerhin hatte Cheng der kleinen Lena versprochen, ihre Mutter zu heiraten. Und da drängte sich also auf, über die familiäre Situation der prospektiven Gattin Bescheid zu wissen.
    Bevor Cheng nun aber jene Frage stellte, mußte er eine andere erst abwehren. Er erklärte also, daß es besser sei, wenn sie, Rubinstein, wenig bis nichts darüber erfuhr, wie es zu dem »Vorfall« am Dachboden hatte kommen können. So würde es ihr leichter fallen, der Tochter gegenüber jene Gelassenheit an den Tag zu legen, die demnächst gefragt sein würde.
    »Sie meinen«, fragte Rubinstein und produzierte einen abfälligen Blick, »ein Kind könnte vergessen, jemand erschossen zu haben?«
    »Selbstverständlich«, sagte Cheng, »Kinder können eine Menge Dinge vergessen.

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