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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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ziehen.«
    »Ja, das ist bedauerlich«, sagte Smolek. »Trotzdem würde ich vorschlagen, Sie fahren nach Liesing.«
    »Ich dachte, Ihnen wäre lieber, ich lehne ab.«
    »Reden Sie mit der alten Dame. Sie heißt Mascha Reti. Hören Sie sich an, was sie zu erzählen hat. Sie können dann immer noch nein sagen.«
    »Ich fühle mich unwohl bei dieser Geschichte«, meinte Anna.
    »Bei aller Neugierde, wie ich zugeben muß. Aber ich habe Verantwortung für ein Kind. Ich kann es mir nicht erlauben, Fehler zu machen.«
    »Ich denke nicht, daß Frau Reti verrückt ist. Und über das Risiko kann man ja noch gar nichts sagen.«
    »Ich merke schon, Sie sind diesmal nicht objektiv.«
    »Nein, bin ich nicht. Machen Sie mir einfach die Freude, sich die Sache anzusehen.«
    »Warum sollte ich Ihnen eine Freude machen?« fragte Anna.
    »Um zu probieren, wie das ist«, schlug Smolek vor.
    Anna vollzog eine Grimasse, die ihren Schmerz offenbarte. Den Schmerz, sich nicht wirklich wehren zu können. Mit einer dieser Küchenreinigerbewegungen wischte sie die offenen Fragen zur Seite und erklärte sich bereit, Frau Reti zu treffen. Um wenigstens zu erfahren, warum denn ausgerechnet ein Komponist sterben solle. Was allein schon phantastisch klinge.
    Smolek nickte, wobei er nicht etwa erleichtert oder erfreut wirkte. Sein Gesicht war ein grauer Fleck vor grauem Hintergrund. Kaum vorstellbar, daß dieser Mann auch nur halbwegs weiße Zähne besaß. Tat er aber. Allerdings waren sie so gut wie nie zu sehen. Sie blitzten nicht. Auch wenn er lachte nicht, soweit man sagen konnte, dieser Mann würde lachen.
    »Wann soll ich Frau Reti treffen?« fragte Anna Gemini.
    »Morgen. Drei Uhr. Sie wird dann im Anstaltspark zu finden sein, gleich wie das Wetter ist. Sie scheint auch so ihre Prinzipien zu haben.«
    »Und ist klug genug, sich daran zu halten«, meinte Anna und winkte ihrem Sohn. »Es ist Zeit für uns. Wir müssen gehen.«
    »Eine Frage noch«, hielt Smolek sie zurück. »Die Ermordung dieses norwegischen Botschafters, hatten Sie damit etwas zu tun? Ganz Ihr Stil, fand ich, wenn man das Fehlen eines persönlichen Stils bedenkt.«
    »Nicht, daß ich wüßte, je einem Botschafter begegnet zu sein«, sagte Anna, faßte Carl an der Schulter, und gemeinsam verließen sie den Friedhof.
    Smolek blieb noch lange stehen. Er blickte auf die Russen, auf die roten Sterne, schob dann seinen Kopf ins Genick und sah in den wolkenverhangenen, tiefliegenden Himmel wie in einen Spiegel.
     

9 Kein Wurm
    Am frühen Nachmittag des nächsten Tages fuhren Anna und Carl hinüber nach Liesing und betraten die weitläufige Parkanlage des Geriatrischen Zentrums. Früher hatte es Pflegeheim geheißen. Aber offensichtlich störte man sich neuerdings an einem solchen Begriff, wie man sich ja an einer Menge dieser alten und unmißverständlichen Wörter störte und begonnen hatte, Schwammigkeit mit Würde zu verwechseln. Es war jedoch kaum würdevoll zu nennen, Begriffe durchzusetzen, die richtig auszusprechen, Mühe bereitete. Geriatrie war ein dämlicher Zungenbrecher, ein Wort, das sich einem solange im Mund verdrehte, bis man dann eben doch wieder von Altenpflege redete.
    Es war kalt. Der Wind klopfte die Regentropfen der vergangenen Nacht von den Bäumen. Was nichts daran änderte, daß sich Frau Reti wie angekündigt im Freien aufhielt. Sie saß ohne Decke in ihrem Rollstuhl, ohne Hut, mit einem dünnen Mantel bekleidet, weißhaarig, hager, sonnengebräunt, ganz der unerbittlich vitale Leni-Riefenstahl-Typus. Hinter ihr, eine Zigarette rauchend, stand ein großer, schlanker Mann, der eine dunkelgrüne Jacke über seiner weißen Dienstkleidung trug.
    Mascha Retis Stimme war fest, nicht ohne den einen oder anderen Sprung, aber eben fest, wie eine dieser gekitteten Kaffeetassen, die dann ewig halten. Sie sagte: »Schön, liebe Frau Gemini, daß Sie sich entschlossen haben, mich zu besuchen.«
    Anna nickte, wies neben sich und sagte: »Das ist mein Sohn Carl.«
    »Grüß dich, Carl.«
    Der Junge gab einen freundlichen Ton von sich und verzog seinen Mund, wie auch die alte Frau ihn beim Sprechen krümmte. Es war ein deutliches Zeichen für Carls Sympathie, das Gesicht einer Person zu kopieren. Ein Zeichen, welches Frau Reti zu verstehen schien. Sie lächelte, und zwar nicht mit diesem milden, trotteligen Ausdruck, wie viele alte Menschen meinen, man erwarte derartiges von ihnen, nein, ihr Lächeln besaß dieselbe verklebte Festigkeit, die auch ihrer Stimme eigen

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