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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Gesicht gezogen, scheinbar schwermütig, vielleicht auch nur gelangweilt. Jedenfalls gab er keinen Ton von sich, imitierte also auch nicht – wie er das sonst gerne tat – das Rauschen der Bäume, sondern drehte bloß einen Finger propellerartig durch die Luft, wie um einen Wirbelsturm zu begründen.
     
    »Ein Freund?« fragte Anna, nachdem sie hinter Kurt Smolek zu stehen gekommen war.
    »Wer?«
    »Na, der Tote.«
    »Ach, ich stehe hier nur, um mir die Leute anzusehen.«
    »Und was sehen Sie?«
    »Menschen in Mänteln.«
    »Nicht mehr?«
    »Die Trauer hält sich in Grenzen. Sogar die Heuchelei. Komischer Toter, der so rein gar nichts auszulösen vermag.«
    »Was verlangen Sie?« fragte Anna. »Tränen? Zusammenbrüche?«
    »Ein wenig mehr Blumen würden schon reichen. Es ist ein dunkler Tag. Blumen wären kein Fehler. Na, lassen wir das. Gehen wir hinüber zu den Russen.«
    Mit den »Russen« meinte Smolek jene mit Steinen und Ketten und roten Sternen umgrenzte Fläche, die die intime Größe eines Schrebergartens besaß und in deren österreichischer Erde gefallene Soldaten der Roten Armee bestattet lagen. Ein monolithischer Grabstein erhob sich aus einem Grund aus rostigem Laub. Das Rot der Sterne, die aus niedrigen Pfeilern wuchsen, bröckelte, besaß aber dennoch – erst recht an diesem lichtfaulen Tag – eine illuminierende Kraft. Überhaupt schienen diese Sterne mit einem Zauber versehen zu sein, wie man das von Märchen kennt, in denen eine Menge guter Menschen in Gegenstände oder Tiere verwandelt werden. Jedenfalls konnte man trotz einer gewissen Schäbigkeit den Eindruck bekommen, daß hier die Sowjetunion noch existierte, daß sie richtiggehend blühte, mittels dieser Sterne in die Welt hinausblühte, zumindest in die Inzersdorfer Welt.
    Inzersdorf beherbergt einen kleinen Teil des südlichen Stadtrands von Wien, besitzt den Charme jener Gesichtslosigkeit, welche ein Gesicht bildet, und ist einigermaßen berühmt geworden durch seine gleichnamigen Fleischkonserven. Fleischkonserven und Sowjetunion, das paßte gut zusammen. Auch die Sowjetunion lagert in einer Konserve. Und jetzt war nur noch die Frage, ob jemand den richtigen Dosenöffner besaß. Und wie die Sache mit den Konservierungsstoffen ausgegangen war.
    Hinter dem Grabmal roter Sterne, gegen die Wand der Friedhofsmauer gedrückt, lagen die Ruhestätten jener alten Bürger, die noch als Fabrikanten und Hausbesitzer gestorben waren, als Fräuleins und unvergeßliche Gattinnen. Smolek mochte diese Ecke, in welcher Großbürger und Rotarmisten in denselben Boden gezwungen worden waren, praktisch in ein und dasselbe Zimmer. Gottes Käfig, wenn man so will.
    Wobei nun Smolek sicher kein verkappter Kommunist war. Ebensowenig ein Freund von Fabrikanten. Die Mischung aber gefiel ihm.
    Dieser Ort war es nun, an dem sich Smolek vorzugsweise mit Anna Gemini traf. Wollte er mit ihr in Kontakt treten, so rief er sie an und brauchte nur einen Tag und eine Uhrzeit zu nennen. Anna wußte dann, daß man sich bei den »Russen« oder zumindest in der Nähe der »Russen« treffen würde, so inkorrekt die Bezeichnung im Falle einer Vielvölkerarmee auch sein mochte.
    Carl überstieg eine der bodennahen Ketten, die die Grabfläche der Rotarmisten begrenzten, stellte sich an die beschriftete Platte, die in die Front des Obelisken eingelassen war, und fuhr mit seinem Finger von einem kyrillischen Buchstaben zum nächsten, was nun den Eindruck machte, als entziffere er mühsam einen Namen nach dem anderen. Nicht, daß er etwa Russisch gekonnt hätte.
    Manchmal erschien es Anna, ihr Kind treibe eine sehr spezielle Form von Hochstapelei. Als besitze Carl einen Verstand, der gerade ihn, den Behinderten, zu der Einsicht geführt hatte, wie nötig es sei, etwas Ungewöhnliches und Rätselhaftes zu tun. Nicht, daß Anna einige besondere Begabungen ihres Sohnes bezweifelt hätte. Aber sie sah, daß Carl übertrieb, mitunter auch schauspielerte. Daß er bemüht war, eine Art Wunderkind vorzuspiegeln.
    Smolek riß Anna aus ihren Überlegungen heraus, indem er so kurz wie behutsam ihren Arm berührte, geradeso, als überzeuge er sich bloß von der Realität dieses Arms.
    Anna wandte sich ihm zu und fragte: »Um wen geht es?«
    »Der Mann heißt Janota, Apostolo Janota.«
    »Meine Güte, was für ein Vorname«, stöhnte Anna Gemini, die in bezug auf Namen eigentlich den Mund hätte halten müssen. »Ich meine, für jemand, der Janota heißt.«
    »Könnte sich um einen

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