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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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oben sah. Carl wußte davon, und es war ihm recht. Auch die anderen Kartäuser waren unterrichtet. Doch niemand fühlte sich gestört oder beobachtet. Man akzeptierte Annas Handlungsweise als eine formale Übung, als einen schmückenden Akt ihrer Sorgsamkeit. Denn immerhin unterließ sie es, hinauf zur Kirche zu kommen und sich in die Belange der Kartäuser zu mischen. Nein, Anna ging nicht einmal so weit – wie es andere Mütter versuchten –, die ganze Gruppe auf Cola und Kuchen einzuladen. Sie wußte, wie wenig die Patres solche Anbiederung schätzten.
     
    Anna Gemini stand also auf der Straße und betrachtete durch die Optik eines überaus praktikablen Geräts ihren Sohn und seine Freunde. Nicht, daß sie auf der Suche nach etwas Bestimmtem war. Sie überzeugte sich bloß davon, daß alles seine Ordnung hatte.
    Hatte es aber nicht. Ihr mit dem Okular und dem Objektiv langsam dahingleitender Blick stoppte angesichts jener Gestalt, die da im Schatten des kubischen Kirchenkörpers weniger stand, als daß sie sich verborgen hielt. Die Gestalt eines Mannes, wie sie jetzt erkannte. Eines Mantelträgers, welcher die Jugendlichen beobachtete. Daran konnte kein Zweifel bestehen.
    Das war zunächst einmal nichts, was einen aufzuregen brauchte. Natürlich fanden sich immer wieder Spaziergänger ein, die angesichts dieser Gruppe von Skateboardfahrern eine Weile innehielten. Allerdings handelte es sich fast ausschließlich um ältere Leute, die über die Zeit verfügten, an einem Montag nachmittag zur Kirche hinaufzusteigen, um dann tatenlos herumzustehen.
    Der Mann jedoch, der sich da an den Rand gestellt hatte, war kein Pensionist. Auch kein Arbeitsloser, der die Zeit totschlug.
    Es war ganz eindeutig, daß er nicht zu seinem bloßen Vergnügen gekommen war, daß er im Schatten fror, auch der dünnen Halbschuhe wegen. Nicht, daß Anna auf diese Entfernung sein Schuhwerk ausmachen konnte. Aber es handelte sich nun mal um den Typ Mann, der niemals etwas anderes als Halbschuhe trug. Auch auf Bergen nicht. Immer die gleichen dünnen Schühchen. Keine Frage.
    Auch meinte Anna zu erkennen, der Mann sei Asiat. Oder besitze zumindest asiatische Züge. Ganz sicher hingegen war, daß er die Jugendlichen beobachtete. Nicht die Gruppe als solche. Vielmehr ging sein Blick durch die Reihen, als suche er jemand Bestimmten. Auch dann noch, als er sich endlich aus dem Schatten löste und in den sonnenbeschienenen Eingangsbereich wechselte.
    Als nun Carl an der Reihe war und in Kartäuser-Manier sein Skateboard bedächtig auf die Rollen stellte, um ebenso bedächtig sich selbst auf diesem zu plazieren, da führte Anna ihren fernstechenden Blick näher an die Visage des Mannes heran, dessen nun deutlich zu erkennende Augenform keinen Zweifel mehr über seine mongolische Herkunft ließ. Chinese wohl.
    Sie behielt den Blick auf seinem Gesicht. Was sie sah, machte ihr wenig Freude. Denn soviel verstand sie von physiognomischen Regungen, daß sie sicher sein konnte, daß der Mann soeben gefunden hatte, wonach er suchte. Nämlich ihren Sohn.
    Ganz offensichtlich hatte er Carls Andersartigkeit registriert. Den Umstand, daß Carl nicht nur mit dem Board, sondern auch mit der Unruhe des eigenen Körpers zu kämpfen hatte. Obgleich er bei alldem ein waschechter, ein disziplinierter Kartäuser blieb.
    Da nun Anna Gemini kaum glauben konnte, daß dieser Chinese hier war, um einen behinderten Skateboardfahrer für den Nationalzirkus zu entdecken, und daß er ebensowenig für irgendeine bürokratische Stelle arbeitete, die Carl in die Korbflechterei zu holen versuchte, mußte sie davon ausgehen, daß dieser Mann in letzter Konsequenz nicht an Carl, sondern an ihr, Anna Gemini, interessiert war. An einer Frau mit einem behinderten, Skateboard fahrenden Vierzehnjährigen.
    Sie hatte sich schon immer gefragt, wie es sein würde, wenn man einmal auf ihre Spur stieß. Denn so sehr die meisten der Morde, die sie beging, eher zur Beruhigung einer Situation beitrugen und eine allgemeine Zufriedenheit auslösten, gab es auch Tote, die ein Nachspiel erzwangen. Tote, die irgend jemand dazu provozierten, sich um die näheren Umstände zu kümmern.
    Und eben dies schien nun geschehen zu sein, wenngleich Anna Gemini noch nie etwas mit Asiaten zu tun gehabt hatte. Genaugenommen kannte sie Asiaten nur aus dem Restaurant und aus dem Fernsehen. Nun, das würde sich jetzt wohl ändern.
    Die Möglichkeit, dieser Mann könnte hier und jetzt ihren Sohn entführen, schloß

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