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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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nicht besser als die meisten anderen hier, nahm die Stufen mit einigen Problemen, ohne aber zu stürzen oder auch nur absteigen zu müssen. Unten angekommen, stieg er vom Brett und nahm es in den Arm, und zwar indem er sich hinunterbeugte und es aufhob. Wie auch die anderen Patres, verzichtete er auf die Unart, sein Board mit einem Tritt auf die hintere Kante in die Höhe zu bugsieren. Zudem erfolgte weder ein Applaus noch ein Zeichen von Ablehnung. Es wurde geschwiegen. So war das nun mal mit Mönchen. Diese gewisse Aversion gegen das gesprochene Wort. Und vor allem gegen die Äußerung von Emotionen. Diese gewisse Arroganz gegen das Leben.
    Cheng sah sich um. Die Möglichkeit einer Verwechslung bedenkend, blickte er sich nach einem zweiten Behinderten um, studierte die Fahrweise der nacheinander Antretenden. Aber da war sonst niemand, der das normierte Verhalten der Skateboard-Kartäuser um eine deutlich individuelle Note bereichert hätte. Oder etwa durch eine fehlende Gliedmaße aufgefallen wäre.
    Ja, man muß es so sagen. Der zweite Behinderte an diesem Ort war Cheng selbst, auch wenn er sich ungern so sah. Aber das war ein Faktum und brauchte nicht diskutiert zu werden.
    Chengs Widerwille, sich allzu sehr den Patres zu nähern, verminderte sich zusehends in der Kälte des Schattens. Aus dem er nun endlich heraustrat, einige Blicke über sich ergehen ließ und sich sodann gegen einen von der Sonne aufgeheizten Stein der Kirche lehnte. In dieser Position verblieb er noch eine ganze Stunde. Man hätte ihn für einen Päderasten halten können. Ein Gedanke freilich, den keiner der Kartäuser dachte. Sie hatten rasch aufgehört, sich um diesen komischen Chinesen zu kümmern. Ohnehin gab es nichts, was sie fürchteten, nichts, was jenseits ihrer Zwiesprache mit Gott lag, dem sie sich über ein schmales Brett auf Rollen mitteilten.
    So rasch wie das verfrühte oder verspätete Stückchen Sommer sich eingefunden hatte, verschwand es auch wieder. Mit dem Einbruch der Dämmerung kam der Winter zurück und fiel mit einem zweiten, ungleich heftigeren Schneeschauer über die Stadt herein. Diesmal klappte der Start, diesmal kamen alle Winterteufel gleichzeitig aus ihren Startblöcken heraus.
    Nun war es natürlich so, daß sich Kartäuser von solchen Teufeln nicht schrecken ließen. Wäre ja noch schöner gewesen. Schon gar nicht fühlten sie sich zu einer raschen Flucht veranlaßt. Sie fuhren und standen noch eine ganze Weile herum. Einige von ihnen mit kurzen Leibchen. In diesem Alter schien man nicht zu frieren. Zudem trugen ja alle ihre Wollmützen, während jetzt neunzig Prozent der Wiener Passanten vollkommen barhäuptig von diesem Neustart des Winters – nach sehr, sehr kurzer Sommerpause – überrascht wurden.
    Der Aufbruch der Kartäuser erfolgte sodann ohne jede Eile und ohne die Würdelosigkeit um ihrer Frisuren besorgter Menschen. Man beendete die Exerzitien in der vereinbarten Form und begab sich nach Hause, und damit wohl in jene bürgerliche Sphäre, in der die wahre Bedeutung eines Skateboards unerkannt blieb.
    Cheng folgte dem Haufen Jugendlicher durch den schräg herabstürmenden Niederschlag. Einen langen Weg befürchtend, durfte er mit Erleichterung feststellen, daß besagter Junge sich bereits am unteren Ende jener steil auf die Kirche zu- und wegführenden Straße von seinen Kameraden verabschiedete und ein von dicht stehenden Bäumen bewaldetes, eingezäuntes Grundstück betrat. Hinter den Bäumen und hinter dem Vorhang aus Schnee erkannte Cheng vage ein Haus, eine kleine Villa, deren Zustand bei diesen Verhältnissen nicht zu beurteilen war.
    Jedenfalls wußte Cheng nun, wo der Junge wohnte. Und es war anzunehmen, daß hier auch die Frau zu finden war, von der Smolek gesprochen hatte. Die Mutter und Killerin. Wenn es denn so war.
    Cheng überlegte, ob er die Sache frontal angehen solle. Der Schnee aber störte ihn, und zwar gewaltig. Für ihn war Schneefall ein böses Omen. Aus gutem Grund. Allerdings widerstrebte ihm auch, in diesem Wahnsinnswetter nach der in Stadtrichtung gelegenen Autobushaltestelle zu suchen. Oder auf ein Taxi zu warten, das er ja erst hätte bestellen müssen. Wozu eine Telefonzelle oder Gaststätte nötig gewesen wäre. Und diese Gegend war alles andere als eine Telefonzellen- und Gaststättengegend. Nein, so sehr dieser heftige Schneefall als ein schlechtes Zeichen verstanden werden mochte, zwang er Cheng zu einer offensiven Verfahrensweise.
    Er trat an das Tor und

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