Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
sie aus. Wenn eine solche Gefahr überhaupt bestand, so war es noch zu früh dafür. Der Chinese befand sich ganz offensichtlich erst am Beginn, hatte eben erst Carl entdeckt und würde noch eine ganze Weile benötigen, um eine vollständige Addition vornehmen zu können. Es war also nicht nötig, in Panik auszubrechen.
    Anna Gemini verfolgte ungebrochen die Beobachtungen des Chinesen und bemerkte sodann – quasi über seinem Kopf auftauchend – das Nahen eines erneuten Wintereinbruchs. Silbrigblaue Wolken. Man könnte sagen, riesige Kartäuserkatzen.
    Anna senkte ihr Fernglas und begab sich zurück ins Haus, wo sie in den Keller ging. Wie die meisten Menschen hatte sie ihre Waffe im Keller. Und nicht unter dem Bett, wie zwar oft angenommen wird, aber völlig zu Unrecht. Anständige Menschen tun so etwas nicht. Praktisch auf ihren Waffen schlafen. Das tut man so wenig, wie man Liebesbriefe in Matratzen oder Kissen versteckt.
    Anna holte also ihre einzige Handfeuerwaffe und legte sie hinter der Bücherreihe eines zu Dreiviertel gefüllten Regals ab. Hinter das Gesamtwerk Ingeborg Bachmanns. Genau so lange war ihre Pistole, von welcher sie aus diesem Grunde stets als von ihrer Bachmann sprach, beziehungsweise dachte, da von Waffen richtiggehend zu sprechen sich natürlich verbot.
    Auch war noch nie der Fall eingetreten, die Bachmann an dieser Stelle verstecken zu müssen. Um sie solcherart parat zu haben. Aber der Platz war nun mal seit längstem für einen solchen Anlaß bestimmt. In Griffnähe, auf Hüfthöhe. Falls es zum Äußersten kommen würde.
    Dieses Äußerste wollte Anna gerne vermeiden. Allerdings war ihr auch bewußt, daß es Probleme gab, die sich durch kein noch so gutes Wort aus dem Weg räumen ließen. Durch keine Formel, kein Gedicht, kein Gebet. Selbst durch bestes Benehmen nicht. Mancher Knoten ließ sich allein dadurch lösen, daß man ihn in die Luft sprengte.
    Anna Gemini setzte sich und wartete. Wäre Carl in Gefahr gewesen, sie hätte es gespürt. Beziehungsweise hätte der heilige Franz von Sales ihr ein Zeichen gegeben. Heilige tun das, und nicht nur die. Davon war sie überzeugt. Daß nämlich unentwegt Zeichen gegeben wurden, ja, daß man schon ziemlich abgestumpft sein mußte, um all diese Zeichen zu übersehen und zu überhören.
    Trotzdem muß gesagt werden, daß Anna Gemini sich um einiges besser fühlte, als die Eingangstüre aufging und ihr vom Schnee beleckter Sohn hereintrat. Er schlüpfte aus seinen nassen Schuhen, gab einige Laute von sich gab, die in fabelhafter Weise das Getöse des Schneesturms imitierten, umarmte seine Mutter so, als fange er sie mit einem Lasso, und ging hinauf in sein Zimmer im ersten Stock. Alle Patres taten das, daß sie nach den erfolgten Exerzitien sich für eine Weile zurückzogen und unter ihre Bettdecken krochen. Wozu auch immer. Der Zweck blieb ihr Geheimnis, wobei sich wohl kaum etwas Grandioses oder gar Unaussprechliches dahinter verbarg. Für die Skateboard-Kartäuser galt nämlich dasselbe wie für ihre mönchischen Namensbrüder: Daß nichts von dem, was die Welt bewegte, für sie einen Wert besaß, nicht einmal die Eigenschaft, anders und besonders zu sein.

17 Kabeljau und Makrele
    Ein klein wenig überrascht war Anna Gemini schon, als es klingelte. Eher hatte sie damit gerechnet, daß es noch einige Zeit, einen Tag mindestens, dauern würde, bis dieser Chinese auftauchte. Aber er schien einer von der schnellen Sorte zu sein. Oder von der übereilten.
    Und dann besaß dieser Mensch auch noch die
Unverfrorenheit …
    War das unverfroren, sich als Detektiv vorzustellen? Also höchstwahrscheinlich die Wahrheit zu sagen. Als spucke man auf einen blitzblanken Parkettboden.
    Nun, immerhin beeindruckte es Anna Gemini. Auch beeindruckte sie, daß der Mann, dem sie nun die Türe öffnete, sich weder schmierig noch aggressiv gab, sondern tatsächlich in der Art derer, die immer dünne Halbschuhe trugen. Nämlich gebildet. Und zwar dadurch, daß er sogleich beim Eintreten jenen im Flur aufgehängten Dobrowsky erkannte. Was nun keineswegs selbstverständlich war. Die Gemälde dieses späten Expressionisten mochten zwar unter einschlägigen Sammlern bekannt sein, besaßen aber nicht den Emblemcharakter eines Kokoschka und schon gar nicht den Bekanntheitsgrad von Kalenderblättern, die an jeder Ecke hingen und Schiele oder Klimt hießen.
    Und da kam also dieser Chinese bei der Türe herein, grüßte höflich und akzentfrei, warf einen kurzen Blick in den

Weitere Kostenlose Bücher