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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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irgendeines Therapeuten zu rechtfertigen? Nur, damit diese Kunstwerke – dieses nachlässig hingeschmierte Zeug, wie eben Halbwüchsige, gesund oder nicht, nachlässig zu schmieren pflegen – die Gänge von Instituten schmücken konnten?
    Anna schützte ihren Sohn. Und schützte ihn auch gegen seine Vereinahmung als Geisteskranken. Umso mehr war sie erfreut gewesen, als Carl auf jene Kartäuser gestoßen war, die in völlig anderen Kategorien dachten. Und deren Radikalität soweit ging, nicht etwa gegen die Gesellschaft Position zu beziehen, wie man sich vor eine Lawine hinstellt und »Halt!« sagt, sondern sich außerhalb ihrer zu bewegen. Zwischen Lawinen. Und dabei eine Demut zu praktizieren, die die Fahrt auf einem Skateboard nicht nur zuließ, sondern geradezu erzwang, allerdings jegliche Exaltiertheit unterband. Darum keine Sprünge. Darum der Verzicht auf eine gewollt eigene Note.
    Anna Gemini hatte sofort begriffen, daß dieser Skateboard-Orden für ihren Sohn eine Zuflucht darstellte, wie sie selbst unter bester mütterlicher Pflege nicht zustande kam. Und das war gut so. Carl konnte sich auf diese Weise unter seinesgleichen bewegen. Ein Junge unter Jungs. In einer Gruppe, die ihre Spiritualität bezeichnenderweise zwar in der Nähe einer Kirche, aber dennoch unter freiem Himmel ausübte. Also auch an dieser Stelle die Lawine mied.
    Wie auch in einem weiteren wesentlichen Punkt. Es fehlten Mädchen. Die schlimmsten Lawinen von allen.
    Daß sie fehlten, war Anna sehr recht. Nicht nur, weil sie als Mutter eine angeborene Aversion gegen die potentiellen Gespielinnen ihres Schutzbefohlenen Kindes verspürte. Sondern auch, da sie erfahrungsgemäß den Einfluß junger Frauen auf junge Männer für zerstörerisch hielt. Nicht die Schule, nicht der Beruf, nicht das Militär, nicht die Onanie oder der Alkohol oder schlechte Filme machten aus jungen Männern junge Idioten. Nein, es waren jene mehr oder weniger gleichaltrigen Mädchen, die in diesem bestimmten Alter schlichtweg bösartig zu nennen waren. Hochintelligent und hochbösartig. Virulent, könnte man sagen. Oder toxisch.
    Das ist das Drama unserer Gesellschaft. Von solchen in jungen Jahren zerstörten Männern dominiert zu werden. Wie schon immer. Natürlich auch zu Zeiten, als man versucht hatte, junge Frauen und junge Männer getrennt zu halten. Aber das geht nun mal nicht. Der ruinösen Kraft junger Frauen mit Restriktion oder einschnürenden Mieder zu begegnen, zeugt von der Dummheit jener, die zuvor ja ebenfalls junge Männer waren, die zu jungen Idioten wurden.
    Genau dies dachte Anna Gemini, ohne sich dabei schlecht vorzukommen. Oder sich als Verräterin gegen das eigene Geschlecht zu empfinden. Was sie zu erkennen glaubte, hielt sie für gottgegeben, für durchschaubar und nicht zuletzt für vermeidbar. Zumindest im Einzelfall. Weshalb sie meinte, daß es für ihren Sohn besser sein würde, seine Pubertät und Adoleszenz in Sphären zu verbringen, die frei von jenen mehr oder weniger gleichaltrigen Weibsstücken waren. Darum und aus vielen anderen Gründen unterstützte sie Carls beinah tägliche Aufenthalte im Kreis der Kartäuser.
    Daß Anna Gemini in bezug auf Mädchen, beziehungsweise ein Mädchen, schon bald ihre Meinung ändern würde, konnte sie nicht ahnen. Eigentlich weniger die Meinung als die Bestätigung ihrer Meinung mittels einer Ausnahme von der Regel. Welche dazu dient, die Ausnahme von der Regel, sich ständig selbst zu widersprechen, ohne daran etwas zu finden.
     
    Die meisten dieser Kartäuser lebten in jener Gegend, die sich unterhalb der Wotrubakirche großzügig und gartenreich ausbreitete. Hin und wieder traf man sich auch an anderen Kirchen, wie der Kalksburgkirche, doch stellte der Platz vor der Wotrubakirche das eigentliche Zentrum des Ordens dar. Was natürlich ein Glück für Anna Gemini war. Zumindest bedeutete es eine große Erleichterung. Man darf ja nicht vergessen, wie sehr Mutter und Kind aneinander gebunden waren, sodaß sich der eine vom anderen ungern entfernte. Und nur unter bestimmten idealen Bedingungen.
    Selbige waren hier gegeben. Im Kreis der Kartäuser fühlte sich Carl sicher. Dazu kam, daß das Haus der Geminis und die Wotrubakirche kaum hundert Meter auseinanderlagen und sich von der Straße aus eine direkte Linie ergab.
    Es gehörte nun zu den üblichen Ritualen mütterlicher Pflege, daß Anna ab und zu ihre Renovierungsarbeiten unterbrach, Haus und Grundstück verließ und mittels Fernstecher nach

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