Ein dickes Fell
entzifferte zwischen rasenden Schneeflocken einen Namen: Gemini.
War das ein Name oder ein Witz?
Nun, warum sollte nicht jemand wie eine amerikanische Raumfahrt-Kapsel heißen? Oder wie ein Sternbild? Es gab Schlimmeres. Manche Leute hießen wie ein Rasierapparat. Auch eignete sich der Name Gemini in keiner Weise, an etwas zu Schreckliches zu denken. Im Gegensatz zu Rasierapparaten.
Cheng drückte den Knopf sehr viel rascher als sein Verstand arbeitete. Er hatte sich noch nicht einmal überlegt, wie er seinen Auftritt begründen wollte. Hier war nicht die Lerchenfelder Straße. Hier hatte er niemals ein Büro gehabt.
Er stand einfach da, wie jemand, der bedroht war, von den Strudeln aus Schnee verschluckt zu werden.
Und als nun die Stimme einer Frau durch den Lautsprecher drang, um sich zu erkundigen, wer denn da sei, sagte Cheng ganz einfach die Wahrheit. Weil nun mal in der Not und auf die Schnelle die Wahrheit einem sehr viel leichter über die Lippen geht. Er sagte also: »Mein Name ist Markus Cheng, und ich bin Privatdetektiv.«
Mitunter konnte die Wahrheit ganz schön lächerlich klingen. Da hätte er gleich davon sprechen können, ein Engel zu sein.
Tatsächlich fragte die Frau: »Detektiv? Sie sind wohl einer von den Spaßvögeln, denen jedes Mittel recht ist, einen Staubsauger zu verkaufen.«
»Keine Staubsauger«, versprach Cheng. »Keine Zeitschriften. Und schon gar keine Versicherungen.«
»Also gut«, meinte die Frau. »Wenn Sie wirklich Detektiv sind, werde ich Sie ja ohnehin nicht so schnell los. Ersparen wir uns also die Umwege.«
»Sehr freundlich!« dankte Cheng und drückte gegen die surrende Gittertüre. Die kalte Schnalle vibrierte. Es kam Cheng vor, als habe er den Arm oder das Beinchen einer batteriebetriebenen Puppe erfaßt. Ein Moment der Übelkeit stellte sich ein. Es gab Vergleiche, die man lieber nicht dachte.
V Gemini und Cheng
Ich beschreibe Einem ein Zimmer, und lasse ihn dann,
zum Zeichen, daß er meine Beschreibung verstanden hat, ein impressionistisches Bild nach dieser Beschreibung malen. –
Er malt nun die Stühle, die in meiner Beschreibung grün
hießen, dunkelrot; wo ich »gelb« sagte, malt er blau. –
Das ist der Eindruck, den er von diesem Zimmer erhielt.
Und nun sage ich: »Ganz richtig; so sieht es aus.«
PHILOSOPHISCHE UNTERSUCHUNGEN, LUDWIG WITTGENSTEIN
16 Eine Waffe namens Bachmann
Anna Gemini trat hinaus auf die Straße, die – noch feucht vom ersten Schnee – im Licht des zu frühen oder zu späten Sommerstücks einen metallischen Glanz besaß. Überhaupt hätte man die steil aufragende Straße in diesem Moment für ein monumentales Silberbesteck halten können, das den Weg hinauf zur Wotrubakirche wies. Gewissermaßen als einen katholischen Tortenheber.
Auf einen mühsamen Aufstieg konnte Anna allerdings verzichten. Ein solcher war auch gar nicht nötig. Es genügte vollauf, daß sie sich das mitgebrachte Fernglas an die Augen hielt, eine genaue Einstellung vornahm und sodann die Unversehrtheit ihres Jungen feststellen konnte. Er stand inmitten des Pulks auf der Kuppe und verfolgte die Fahrt eines seiner Mitbrüder. Hochkonzentriert. Das waren sie alle. Sie schienen keine Sekunde mit etwas anderem als jener Betrachtung beschäftigt zu sein. So gesehen waren sie tatsächlich echte Kartäuser, indem sie nämlich in ihrer jeweiligen Isoliertheit, ihrer geistigen und konkreten Einsiedelei doch eine Gemeinschaft bildeten. Eine verschworene Truppe, für die weder Schabernack noch Eigensinn zählte. Und schon gar nicht ein persönlicher Fahrstil. Wenn sich dieser ergab, war er ungewollt. Etwas, das es auszumerzen galt.
Anna Gemini war froh um diese Bruderschaft und daß ihr Sohn darin eine Heimat gefunden hatte. Denn es war ja nun keineswegs so, daß Carl irgendeinen Platz in der Gesellschaft besaß. Vielmehr galt er als Störung. Uneingestanden und unausgesprochen, aber als Störung. Die Zeiten, da man ihn dank diverser Schulmodelle integriert hatte, waren vorbei. Genug geblödelt. Mit vierzehn war man entweder geheilt oder man wurde ins Territorium der Deppen verbannt, zur Korbflechterei oder ähnlichem Unsinn. Nicht, daß Carl Körbe flechten mußte.
Aber nur darum nicht, weil seine Mutter derartiges rigoros unterband und sich quer zu diversen Beschäftigungsprogrammen stellte. Selbst noch zu Dingen wie Kunsttherapie. Warum sollte ihr Sohn, während Gleichaltrige mit Computern spielten, Kunstwerke herstellen? Nur, um den Job
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