Ein diplomatischer Zwischenfall
nichts dergleichen. Es existierte nur ein altes Testament, in dem er all sein Geld seiner Frau oder, falls sie ihn nicht überlebte, seinem Bruder Henry vermachte. Schon vor Jahren hatte er das Testament aufgesetzt. Und es erschien ihr sehr ungerecht!
Allmählich gelang es Hercule Poirot, sie von ihrem Hauptthema, ihrer unbefriedigten Gier, abzubringen. Es war tatsächlich herzlos und ungerecht, ja, ja, da hatte sie ganz Recht! Man konnte Mrs Amelia nicht verdenken, dass sie verletzt und empört war. Mr Gascoigne war für seinen Geiz bekannt gewesen. Man erzählte sich sogar, dass er selbst seinem einzigen Bruder nicht einmal geholfen hätte. Wahrscheinlich wusste Mrs Amelia darüber Bescheid.
»Dann war das also der Grund, weshalb Dr. Lorrimer ihn besuchte?«, fragte Mrs Amelia. »Ich wusste, dass es irgendetwas mit seinem Bruder zu tun hatte, aber ich dachte, er wollte sich nur aussöhnen. Sie hatten sich vor Jahren zerstritten.«
»Ich habe erfahren«, sagte Poirot, »dass Mr Gascoigne sich entschieden weigerte?«
»Das ist völlig richtig«, stimmte ihm Mrs Amelia zu. »›Henry‹, sagte er ziemlich schwach. ›Was soll ich mit Henry? Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, und ich will ihn auch in Zukunft nicht sehen. Henry ist zänkisch.‹ Das war alles, was er dazu gesagt hat.«
Die Unterhaltung wandte sich dann wieder Mrs Amelias eigenen Kümmernissen zu. Man sprach auch vom Rechtsanwalt des kürzlich verstorbenen Mr Gascoigne, der ebenfalls für sie kein Verständnis zeigte.
Mit einiger Mühe gelang es schließlich Hercule Poirot, sich zu verabschieden, ohne die Unterhaltung zu abrupt abzubrechen.
Kurz nach dem Abendessen stand Hercule Poirot vor der Wohnung des Dr. George Lorrimer in Elmcrest, Dorset Road, Wimbledon.
Der Arzt war zuhause, und Poirot wurde in die Praxis geführt. Dr. George Lorrimer begrüßte ihn freundlich. Anscheinend war er gerade vom Abendbrottisch aufgestanden.
»Ich bin kein Patient, Herr Doktor«, sagte Hercule Poirot. »Mein Besuch mag vielleicht aufdringlich erscheinen, aber ich bin ein alter Mann, und ich glaube daran, dass man schnell, offen und ehrlich handeln soll. Ich mache mir nichts aus Rechtsanwälten und ihren überaus umständlichen Verhandlungsmethoden.«
Er hatte zweifellos das Interesse Lorrimers geweckt. Der Arzt war mittelgroß und makellos rasiert. Er hatte braunes Haar, seine Wimpern waren allerdings beinahe weiß, was seinen Augen ein blasses, farbloses Aussehen verlieh. Er gab sich lebhaft und humorvoll.
»Rechtsanwälte?«, fragte er und hob die Augenbrauen. »Ich hasse diese Burschen. Sie erwecken meine Neugier, mein Herr. Aber bitte, setzen Sie sich doch.«
Poirot setzte sich, holte eine seiner dienstlichen Visitenkarten heraus und reichte sie dem Arzt.
George Lorrimers weiße Wimpern zuckten.
Poirot beugte sich vertraulich vor. »Ein großer Teil meiner Klienten sind Frauen«, sagte er.
»Natürlich«, sagte Dr. Lorrimer verstört und zwinkerte flüchtig mit den Augen.
»Sie haben mit Ihrem ›natürlich‹ ganz Recht«, stimmte ihm Poirot bei. »Frauen trauen der Polizei nicht, sie bevorzugen Detektive. Sie wollen nicht, dass ihre Probleme an die Öffentlichkeit dringen. Vor einigen Tagen kam eine ältere Dame zu mir. Sie machte sich Sorgen wegen ihres Mannes, mit dem sie sich vor Jahren zerstritten hatte. Dieser Mann war Ihr Onkel, Mr Gascoigne, der erst vor Kurzem gestorben ist.«
George Lorrimers Gesicht lief dunkelrot an.
»Mein Onkel? Unsinn! Seine Frau starb vor vielen Jahren.«
»Ich meine nicht Ihren Onkel Mr Anthony Gascoigne, sondern Ihren Onkel Mr Henry Gascoigne.«
»Onkel Henry? Aber der war doch gar nicht verheiratet!«
»O doch, natürlich war er das«, log Hercule Poirot, ohne rot zu werden. »Daran besteht gar kein Zweifel. Die Dame brachte sogar ihre Heiratsurkunde mit.«
»Das ist eine Lüge!«, schrie George Lorrimer. Sein Gesicht war nun krebsrot. »Ich glaube das nicht. Sie sind ein unverschämter Lügner.«
»Es ist zu schade, nicht wahr?«, sagte Poirot. »Sie haben ganz umsonst einen Mord begangen.«
»Mord?« Lorrimers Stimme zitterte. Aus seinen Augen starrte Entsetzen.
»Übrigens«, sagte Poirot, »ich sehe, Sie haben wieder Brombeertorte gegessen. Das ist eine unvernünftige Angewohnheit. Man sagt zwar, dass Brombeeren sehr viele Vitamine enthalten, aber andererseits können sie auch tödlich wirken. Diesmal habe ich so ziemlich den Eindruck, dass sie dazu beitragen, den Strick um den Hals
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