Ein diplomatischer Zwischenfall
er irgendwelche Gerichte von der Karte bestellte, ohne zu merken, was er eigentlich tat. Sehr wahrscheinlich hat ihn der Schock zu einem noch früheren Zeitpunkt aus dieser Welt befördert, als ohnehin vorgesehen war. Die Ärzte sollten sich genauer überlegen, was sie sagen.«
»Im Allgemeinen tun sie das«, antwortete Poirot.
»Ich muss hier aussteigen«, sagte Mr Bonnington. »Auf Wiedersehen. Glaube bloß nicht, dass wir jemals erfahren, wer der alte Knabe war. Nicht einmal seinen Namen werden wir erfahren. Die Welt ist doch komisch.« Er eilte aus dem Wagen.
Hercule Poirot saß grübelnd da. Es sah so aus, als hielte er die Welt nicht für so komisch. Er ging nachhause und gab George, seinem Diener, einige Anweisungen.
Kurze Zeit darauf fuhr Hercule Poirot mit dem Finger eine Liste entlang, die den Namen aller kürzlich Verstorbenen in einem bestimmten Stadtteil enthielt. Plötzlich hielt sein Finger inne. »Gascoigne, 69. Ich sollte es zunächst mal mit ihm versuchen.«
Ein paar Stunden später saß Hercule Poirot in der Praxis von Dr. MacAndrews ganz in der Nähe der King’s Road. MacAndrews war Schotte, er war groß, rothaarig und hatte ein intelligentes Gesicht.
»Gascoigne?«, sagte er. »Ja, das stimmt. Er war ein exzentrischer alter Kauz. Er lebte allein in einem dieser baufälligen alten Häuser, die jetzt abgerissen werden, weil man dort einen modernen Häuserblock errichten will. Er war nie mein Patient gewesen, aber ich kümmerte mich um ihn, ich kannte ihn. Dem Milchmann war es als Erstem aufgefallen, denn die Milchflaschen sammelten sich draußen an. Schließlich benachrichtigten die Nachbarn die Polizei. Polizisten brachen die Tür auf und fanden ihn. Er war die Treppe hinuntergefallen und hatte sich den Hals gebrochen. Er trug einen alten Morgenmantel, dessen Gürtel zerrissen war. Wahrscheinlich hatte ihn das zum Stolpern gebracht.«
»Ich verstehe«, sagte Hercule Poirot. »Es war ganz einfach ein Unfall.«
»Ja.«
»Hatte er Verwandte?«
»Einen Neffen. Er besuchte ihn immer einmal im Monat. Lorrimer heißt er, George Lorrimer. Er ist auch Arzt. Er wohnt in Wimbledon.«
»War er über den Tod des alten Mannes bestürzt?«
»Ich weiß nicht, ob ich es so nennen kann. Ich meine, er fühlte sich zu dem alten Mann hingezogen, aber eigentlich kannte er ihn nicht sehr gut.«
»Wie lange war Mr Gascoigne schon tot, als man ihn fand?«
»Ach«, sagte Dr. MacAndrews, »jetzt kommen wir auf das Dienstliche zu sprechen. Er war seit nicht weniger als achtunddreißig Stunden und nicht länger als zweiundsiebzig Stunden tot. Man fand ihn am Sechsten, frühmorgens. Wir wissen noch mehr. Ein Brief steckte in der Tasche seines Morgenmantels. Der war am Dritten geschrieben und nachmittags in Wimbledon aufgegeben worden; er müsste etwa gegen einundzwanzig Uhr zwanzig ins Haus gebracht worden sein. Das bedeutet, dass er am Dritten, abends, nach einundzwanzig Uhr zwanzig gestorben ist. Der Mageninhalt und die Verdauungsprozesse stimmten mit dieser Zeit überein. Er hatte zwei Stunden, bevor er starb, gegessen. Ich untersuchte ihn am Sechsten, frühmorgens, und sein Zustand entsprach ziemlich genau einem Todeseintritt am Dritten, gegen zweiundzwanzig Uhr, also sechzig Stunden vorher.«
»Das passt scheinbar alles großartig! Sagen Sie, wann sah man ihn zuletzt lebend?«
»Er wurde in der King’s Road am gleichen Abend gesehen, Donnerstag, dem Dritten, und er aß um neunzehn Uhr dreißig im ›Gallant Endeavour‹. Er scheint dort immer donnerstags gegessen zu haben. Er war Künstler, müssen Sie wissen, wenn auch kein sehr bedeutender.«
»Hatte er außer diesem Neffen keine andere Verwandtschaft?«
»Doch, einen Zwillingsbruder. Die ganze Geschichte ist ziemlich verworren. Seit Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen. Sein Bruder, Anthony Gascoigne, hatte wohl eine sehr reiche Frau geheiratet und die Kunst an den Nagel gehängt. Deswegen hatten sich die Brüder zerstritten. Und seit dieser Zeit haben sie sich meiner Meinung nach nicht mehr gesehen. Aber seltsamerweise starben sie beide am gleichen Tag. Der ältere Zwillingsbruder starb am Dritten, so gegen drei Uhr nachmittags. Ich habe schon einmal von einem Fall gehört, dass Zwillinge am gleichen Tag starben, obwohl sie durch Länder voneinander getrennt waren. Wahrscheinlich war es nur ein Zufall, aber das hier ist wieder so ein Fall.«
»Lebt die Frau des Zwillingsbruders noch?«
»Nein, sie starb vor Jahren.«
»Wo wohnte Anthony
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