Ein diplomatischer Zwischenfall
Gascoigne?«
»Er hatte ein Haus auf dem Kingston Hill. Nach dem, was Dr. Lorrimer mir erzählte, glaube ich, dass er sehr zurückgezogen gelebt hat.«
Hercule Poirot nickte nachdenklich.
Der Schotte sah ihn aufmerksam an.
»Was beschäftigt Sie eigentlich so, Monsieur Poirot?«, fragte er unvermittelt. »Ich habe Ihre Fragen beantwortet. Das musste ich ja auch wohl, nachdem Sie mir Ihren Ausweis zeigten. Aber was ist denn nun los? Haben Sie etwa einen Verdacht?«
Poirot sagte langsam: »Sie sagten, es sei ganz einfach ein Sturz gewesen. Was ich dagegen denke, ist genauso einfach – es handelt sich ganz einfach um einen Stoß.«
Mr MacAndrews sah ihn erschrocken an.
»Mit anderem Worte: Mord! Haben Sie irgendwelche Gründe für diese Annahme?«
»Nein«, antwortete Poirot. »Ich vermute es nur.«
»Aber – selbst dafür müssen Sie doch einen Grund haben«, beharrte der andere.
Poirot antwortete nicht darauf, und der andere fuhr fort:
»Wenn Sie seinen Neffen Lorrimer verdächtigen, so kann ich Ihnen ganz offen und ehrlich sagen, dass Sie auf dem Holzweg sind. Lorrimer spielte Bridge in Wimbledon von zwanzig Uhr dreißig bis Mitternacht. Das stellte sich bei den Untersuchungen heraus.«
»Wahrscheinlich ist das wirklich wahr«, murmelte Poirot, »die Polizei arbeitet sorgfältig.«
»Wissen Sie vielleicht etwas, was gegen ihn spricht?«, fragte der Arzt.
»Nein, durchaus nicht. Dieser Fall ist das typische Verbrechen menschlicher Bestien. Das ist wichtig. Und der Tod von Mr Gascoigne passt nicht in das Konzept. Es stimmt alles nicht, wissen Sie.«
»Ich verstehe nicht, wirklich nicht.«
Poirot murmelte: »Das Problem ist, dass schlechter Fisch unter zu viel Sauce versteckt wurde.«
»Aber verehrtester Monsieur, wie soll ich das verstehen?«
Hercule Poirot lächelte, dann sagte er:
»Sie werden mich wohl bald in eine Irrenanstalt bringen lassen, Monsieur le Docteur, aber ich bin doch kein Verrückter, sondern nur jemand, der geordnete Verhältnisse und methodisches Arbeiten liebt. Es quält mich, wenn ich mit einer Tatsache konfrontiert werde, die keine ist. Verzeihen Sie mir, dass ich Sie so lange aufgehalten habe.«
Er erhob sich, und auch der Arzt stand auf.
»Ich muss Ihnen ganz ehrlich meine Meinung sagen«, fuhr MacAndrews fort. »Der Tod von Henry Gascoigne erregt in mir nicht den leisesten Verdacht. Nach meiner Ansicht fiel er die Treppe hinunter, nach Ihrer Ansicht stieß ihn jemand hinunter. Es hängt alles – nun ja – in der Luft. Genaues weiß man nicht.«
Hercule Poirot seufzte.
»Ja«, sagte er. »Es ist die Arbeit eines Fachmannes. Irgendjemand hat gute Arbeit geleistet.«
»Sie glauben immer noch…?«
Der kleine Mann spreizte die Hände. »Ich bin hartnäckig, nicht wahr? Ich habe eine Vermutung, und sonst habe ich nichts, was diese bloße Vermutung bestätigen könnte. Hatte Henry Gascoigne übrigens ein Gebiss?«
»Nein, seine Zähne waren tadellos in Ordnung. In seinem Alter übrigens recht bemerkenswert.«
»Pflegte er sie gut? Waren sie weiß und sorgfältig geputzt?«
»Ja, sie sind mir sogar als besonders weiß aufgefallen. Im Allgemeinen werden Zähne im Alter leicht etwas gelblich. Aber seine waren weiß und gesund.«
»Waren sie nicht verfärbt?«
»Nein. Ich glaube, er rauchte auch nicht. Das war es doch, was Sie wissen wollten?«
»So genau wollte ich es nicht wissen. Es war nur ein kühner Vorstoß, ein Versuch, der wahrscheinlich zu nichts führen wird. Auf Wiedersehen, Doktor MacAndrews, ich danke Ihnen für Ihre Mühe.«
Er gab dem Arzt die Hand und ging.
»Und nun auf zu dem Versuch«, murmelte er zu sich selbst.
Im »Gallant Endeavour«, setzte er sich an denselben Tisch, an dem er schon mit Bonnington gesessen hatte. Molly war nicht da. Eine andere Kellnerin bediente ihn. Sie erzählte ihm, Molly sei verreist.
Es war erst neunzehn Uhr und noch ziemlich leer, so konnte Hercule Poirot ohne Schwierigkeiten das Mädchen in ein Gespräch über den alten Mr Gascoigne verwickeln.
»Ja«, sagte sie. »Seit Jahren kam er hierher, aber keiner von uns kannte seinen Namen. Wir suchten nach dem Artikel in der Zeitung über die Untersuchungen und so, da sahen wir sein Foto. ›Da‹, sagte ich zu Molly, ›das ist doch unser alter Großvater‹, so nannten wir ihn immer.«
»Er aß hier auch an dem Abend, an dem er starb, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt. Es war am Donnerstag, dem Dritten. Er kam immer donnerstags hierher. Dienstags und donnerstags,
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